Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Spiderman im Trenchcoat"

Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

22. 6. 2013 - 09:34

Spiderman im Trenchcoat

"Gunpoint" lehrt die Kunst des Hightech-Einbruchs.

Gunpoint

Tom Francis/John Roberts

Fotorealistische Explosionen in Zeitlupe, bei denen Staub und Gedärme physikalisch korrekt und mit einzeln berechnetem Schattenwurf durch die Luft fliegen: Wenn man die Präsentationen der gerade zu Ende gegangenen E3 ernst nimmt, wäre "gute Grafik" - oder das, was man im Hochglanzsegment dafür hält - der einzige heilige Gral des Gamings. Dass es auch abseits der Millionen-Polygon-Grenze charmante, hübsche und, ja, "gute Grafik" im Kleinen gibt, beweisen seit mehreren Jahren diverse Retro-Pixel-Art-Spiele: Wer "FEZ" oder "Superbrothers: Swords & Sworcery" gespielt hat, kann beim ewigen Hinterherhecheln nach dem Uncanny Valley nur mehr den Kopf schütteln.

Mit "Gunpoint" gesellt sich nun ein weiteres Indie-Spiel mit grafischem Understatement zur Riege jener Titel, die Freude an traditioneller Spiel-Ästhetik mit originellem Gameplay verbinden, und man muss schon sehr dem High-Poly-Fetischismus verfallen sein, wenn man dem entzückenden, an 8-Bit-Zeiten erinnernden Pixelstyle dieses Mini-Techno-Thrillers nichts abgewinnen kann. Doch trotz all dem niedlich-kleinen Gewusel ist "Gunpoint" ein waschechter Noir-Thriller - allerdings einer mit Humor und Charme.

Als Fassadenkletterer Conway wird man gleich zu Beginn des zur Gänze in aufgeklappter 2D-Seitenansicht spielenden "Gunpoint" Zeuge und Opfer einer klassischen Intrige: Minuten nach dem Anruf einer um Hilfe bittenden Lady ist Letztere tot und wir müssen - logisch! - als Hauptverdächtiger als Erstes mal den Verdacht von uns lenken. Das bedeutet Level für Level stets die Navigation durch immer besser bewachte Büro- und Wohngebäude, um Computer zu knacken oder Beweismaterial zu stehlen. Die sich zwischen den Missionen in Telefondialogen entwickelnde Geschichte ist mit rabenschwarzem Humor erzählt und bietet, ganz klassisch Noir, genug Gelegenheiten, jedem seiner Auftraggeber wiederholt in den Rücken zu fallen - die Abkehr vom ansonsten in vielen Spielen herrschenden Bierernst macht das Noir-Thrillerchen dabei besonders sympathisch.

Gunpoint

Tom Francis/John Roberts

Einbruch für Fortgeschrittene

Wichtigste Hilfsmittel bei unseren Infiltrationseinsätzen sind unser Hightech-Trenchcoat samt "Bullfrog"-Hose, die uns riesige Sprünge machen, wie Spiderman an Wänden hängen und unbeschadet tief fallen lassen, sowie ausgefallene technische Gadgets, vor allem das Crosslink-System, das es uns ermöglicht, die elektrische Verkabelung der jeweiligen Hochhäuser kreativ umzugestalten. So lassen sich etwa gefährliche Wachen durch Unter-Strom-Setzen von Lichtschaltern unschädlich machen oder Schalldetektoren mit Aufzugstüren verkabeln, um automatische Türen zu knacken, und so weiter. Was kompliziert klingt, erweist sich im Spiel als schnell intuitiv verwendbares, spannendes und erfrischend neues Puzzle-Spielelement.

Anstatt nun aber den Spieler zum mühsamen Heraustüfteln einer jeweils einzigen "richtigen" Lösung zu zwingen, gewährt "Gunpoint" viele Freiheiten: Durch zwischen den Missionen kaufbare neue Gadgets oder Fertigkeiten lassen sich die immer vertrackter werdenden Infiltrationsmissionen auf verschiedene Arten lösen und kommen so auch unterschiedlichen Spielweisen entgegen - ob man als schießwütiger Psychopath oder leiser Ninja durch die Gänge schleicht, bleibt einem selbst überlassen. Eine vorbildlich umgesetzte Autosave-Funktion ermöglicht gefahrloses Herumexperimentieren, und ein Editor lässt darauf hoffen, dass auch nach dem Ende der Story-Kampagne - die ist je nach Geschick in etwa drei Stunden an ihrem Ende - von Spielern generierte Level für Nachschub sorgen.

Gunpoint

Tom Francis/John Roberts

Der Journalist als Gamesdesigner

"Gunpoint" ist das Werk eines Games-Journalisten, der einmal die Seiten gewechselt hat: Der Brite Tom Francis hat als Journalist für PC Gamer und Rock, Paper, Shotgun bislang Spiele eher kritisiert als selbst gemacht. Wie die Indie-Entwicklerin Anna Anthropy, die in ihrem letztjährigen Buch "Rise of the Videogame Zinesters" Konsumenten zu kreativen Games-Produzenten ausgerufen hat, betont auch Francis, dass es nie so einfach war wie heute, seine Games-Ideen selbst in die Tat umzusetzen - und mit dem charmanten "Gunpoint" ist ihm der Beweis geglückt, dass diese Titel in Sachen Gameplay, Originalität und Spielspaß durchaus mit den Großen mithalten können.

"Gunpoint" wurde von Verkaufsstart an mit Begeisterung von den Spielern angenommen und hat jetzt schon alle Verkaufserwartungen übertroffen. Die "Entwicklungskosten" - konkret: die Anschaffungskosten für die Entwicklungssoftware "Game Maker 8" - habe "Gunpoint" schon eine Minute nach Verkaufsstart hereingespielt, vermeldete Tom Francis augenzwinkernd. Von nun an will er sich ganz auf die Spieleentwicklung konzentrieren.

"Gunpoint" ist für Windows erschienen. Es gibt auch eine Demo!

"Gunpoint" ist kurz, aber immens unterhaltsam. Und mal ehrlich, ihr Grafikfetischisten: Sind Gameplay, Witz und Style nicht sowieso viel wichtiger als fotorealistische Grafikrekorde?