Erstellt am: 14. 6. 2013 - 14:20 Uhr
No Signal
"Als der Bildschirm schwarz wurde, hatte ich das Gefühl, als ob Krieg ausgebrochen wäre oder ein Putsch stattgefunden hätte. In dieser halbfaschistischen Stimmung, die in den letzten Monaten in Griechenland geherrscht hat, aufgrund der Stärkung der Neonazi-Partei Chrysi Avgi, kommt jemand und zieht den Stecker raus. Es ist erschreckend!", sagt meine Freundin Maria.
Wilkens
Eine Stunde nach der Abschaltung des Rundfunks ruft mich Maria an. "Ich hol' dich ab, wir gehen auch zur ERT", sagt sie entschlossen. Es ist kurz nach Mitternacht. Tausende Bürger haben sich bereits vor dem ERT-Gebäude im Stadtteil Agia Paraskevi versammelt. Maria hat schon lange an keiner Demonstration mehr teilgenommen. Sie muss überdurchschnittlich viel arbeiten, um ihre Arbeitsstelle nicht zu verlieren und die diversen Steuern und Rechnungen zu zahlen. Aber diesmal will auch sie auf die Straße gehen.
*Mit Obristendiktaktur wird die griechische Militärdiktatur (1967-1974) bezeichnet. Am 21. April 1967 führten hochrangige Militäroffiziere unter der Leitung von Georgios Papadopoulos einen Putsch durch. Die demokratisch gewählte Regierung von Giorgos Papandreou wurde entmachtet und eine repressive Diktatur errichtet. Im ganzen Land herrschten Verwirrung, Angst und Panik.
Am 14. November 1973 traten Studenten des Polytechnions in Athen in einen Proteststreik gegen die Militärdiktatur. Das Regime reagierte Gewalt. Wie viele Menschen beim Aufstand ihr Leben ließen, ist unbekannt. Die Junta konnte sich noch weitere acht Monate halten.
So wie Maria fühlen sich viele GriechInnen: Die bisherigen Kürzungen haben sie hingenommen, aber diese abrupte Abschaltung, das geht vielen zu weit. Bei den Älteren werden Erinnerungen an die Obristendiktatur* wach, die Jüngeren sehen es als weitere Demonstration des autoritären Führungsstils der Regierung.
Krise in der Koalition
Regierungssprecher Simon Kedigoglou von der konservativen Nea Dimokratia bezeichnete die öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalt ERT als einen "typischen Fall unglaublicher Verschwendung". Sie belaste die GriechInnen mit etwa 300 Millionen Euro im Jahr, sagte er und wies auf die niedrige Einschaltquote hin und die Gebühren, die jedeR für ERT gleichzeitig mit der Stromrechnung zahlen muss. Der Bevölkerung wurde mitgeteilt, dass sie sich die Rundfunkgebühren künftig sparen kann.
Die beiden Koalitionspartner, die Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) und die Demokratische Linke (DIMAR), wurden laut Medienberichten über die Schließung nicht informiert. Premierminister Antonis Samaras' Entscheidung basiert auf einem Regierungserlass. Die von den Koalitionspartnern gestellten Minister haben diesen Regierungserlass aber nicht unterschrieben.
Die zwei linksgerichteten Parteien setzen sich zwar für die Reformierung der öffentlich-rechtlichen Medien ein, nicht aber für ihre Schließung. Einzig die neofaschistische Partei Chrysi Avgi stellte sich mit einer Stellungnahme auf die Seite der Nea Dimokratia. Die Tatsache, dass Ministerpräsident Samaras gegen den Willen seiner Koalitionspartner den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von heute auf morgen geschlossen hat, könnte zu einem Bruch der Koalition führen. Die Anzeichen für vorgezogene Neuwahlen verdichten sich. Beobachter befürchten sogar eine mögliche Koalition von Nea Dimokratia mit den Neofaschisten oder die Bildung einer Minderheitsregierung mit ihrer Unterstützung. Die Regierungskoalition kommt am Montag zu einer Krisensitzung zusammen.
EPA /ALKIS KONSTANTINIDIS
NERIT - die neue ERT
Laut Medienberichten sollen die Bildschirme nicht lange schwarz bleiben. Mit befristeten Verträgen sollen Journalisten für zwei Monate eingestellt werden und vorläufig Programm machen, bis die neue Anstalt fertig ist
Anstelle von ERT soll bis September eine neue Anstalt aufgebaut werden. Die neue Radio- und Fernsehanstalt soll nur noch 1.200 Angestellte haben - statt bislang rund 2.600 - und NERIT heißen. Über das Budget dieser Sendeanstalt ist noch nichts bekannt. NERIT soll jedenfalls weiterhin öffentlich-rechtlich sein.
Trotz der Schließung von ERT wird weitergesendet. Seit Mittwochmorgen besetzen ehemalige Angestellte das ERT-Gebäude in Agia Paraskevi. Über technische Umwege und das Internet strahlen sie Tag und Nacht ein Protestprogramm aus. Ins Studio haben sie Politiker, Intellektuelle und Künstler als Gäste geladen. Es wird über die Entscheidung der Regierung und die Reaktionen im In- und Ausland gesprochen. Auch werden Internetadressen von Medienportalen eingeblendet, über die man das Protestprogramm verfolgen kann. Die Unterstützung vonseiten der Bürger und der Oppositionsparteien ist groß, Tag und Nacht kommen Menschen, um ihre Solidarität zu zeigen und dafür zu sorgen, dass die Polizei die Besetzung nicht mit Gewalt beendet.
Protestprogramm auf allen Kanälen
Die Journalistengewerkschaften des Landes haben am Mittwoch einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Es werden keine Nachrichten gebracht außer Berichte über die Entwicklungen bei ERT, und es sind auch keine Zeitungen erschienen. Die meisten Menschen informieren sich über alternative Websites, Twitter und Facebook oder verfolgen die Nachrichten ausländischer Medien.
Am heutigen Freitag wird entschieden, ob der Streik fortgesetzt wird. Es ist noch unklar, ob am Wochenende Zeitungen erscheinen werden. Die Verleger üben Druck auf die Journalisten aus, damit Zeitungen wieder erscheinen, und versuchen den Streik auf rechtlichem Wege für illegal zu erklären.
Beeindruckend sind die Reaktionen aus dem Ausland, die laut Beobachtern maßgeblich für die weiteren Schritte der Regierung sein werden. Mehrere Zeitungen haben sich kritisch gegen die Schließung von ERT ausgedrückt. Der deutsch-französische Fernsehsender ARTE hat ein Nachrichtenprogramm auf Griechisch gesendet, als Solidaritätsakt. Die Europäische Rundfunk-Union EBU appellierte in einem offenen Brief an den griechischen Premierminister, die Schließung des EBU-Gründungsmitglieds ERT rückgängig zu machen, und sorgte am Donnerstag dafür, dass ERT wieder über Satellit erreichbar ist.
Die Abteilung Medien und Kommunikation der Universität Athen wies in einer Aussendung darauf hin, dass ERT der einzige griechische Sender war, der eine Sendeerlaubnis vom Staat hatte. Für die Privatsender hat nie eine legitimer Wettbewerb um die Frequenzen stattgefunden. Sie senden ohne Genehmigung. "Durch das Einstellen von ERT wird die Willkürmentalität belohnt, unter der wir alle seit Jahren leiden", heißt es von der Universität.