Erstellt am: 12. 6. 2013 - 19:11 Uhr
Die Verstärkung bleibt aus
Innerhalb weniger Tage verwandelt sich eine BaumschützerInnendemo in eine regierungskritische Massenbewegung inclusive Polizeigewalt, Tränengas, Molotowcocktails und Straßenschlachten. Der türkische Ministerpräsident Erdogan vermutet hinter den Protesten eine Verschwörung gegen seine Person.
Mittlerweile ist die "Gezi-Bewegung" seit zwei Wochen aktiv. Gestern stürmte die Polizei den Taksim-Platz, um Banner und Flaggen verbotener Organisation zu entfernen und die Straßenblockaden aufzulösen. Der Gezi-Park wurde noch nicht geräumt. Das Protestcamp in Ankara wurde gestern von den DemonstrantInnen freiwillig verlassen.
Inzwischen hat Ministerpräsident Erdogan angekündigt, dass er sich mit VertreterInnen von der Gezi-Bewegung und SchauspielerInnen treffen wird.
Seit Tagen ist Erdogan das Objekt lustiger Sprüche auf Twitter und der ultimative Anti-Held in jenen Karikaturheften, die fixer Bestandteil der politischen Kultur in der Türkei sind. Das alles wird Erdogan aber wohl wenig jucken. Genauso wie die RegierungsgegnerInnen den Begriff "Capulcu" positiv umgedeutet haben und damit demonstrieren, dass sie Erdogan nicht ernst nehmen, verpasst der Ministerpräsident keine Gelegenheit, um die Gezi-Park-Bewegung kleinzureden und sich sogar darüber lustig zu machen.
EPA
Erdogan kommt aus dem Istanbuler "Problembezirk" Kasimpasa und ist als "Delikanli" (Wilder Junge) bei seinen WählerInnen beliebt. Erdogan ist jetzt also in seinem Element. Die Gezi-Park-Bewegung hingegen versteift sich zu sehr auf seine Person und besticht in anderen wichtigen politischen Fragen bisher mit Ideenlosigkeit. Das wird der Bewegung langfristig mehr Schaden zufügen, als das gewalttätige Vorgehen der Polizei und die Drohungen der Regierung.
Stars und Sarkasmus am Gezi-Park
In diesen Tagen ist der kleine Gezi-Park, der selbst vielen TürkInnen vor Beginn der Proteste unbekannt war, zum Zentrum des Landes geworden. Jede Nachrichtensendung, egal auf welchem Sender, fängt mit einer Meldung aus dem Gezi-Park an.
Tagsüber herrscht Festivalstimmung. Soap-Stars aus dem türkischen Fernsehen und damit natürlich viele Serienfans sind vor Ort. Wo sonst kann man Schulter an Schulter mit Stars gegen die Regierung protestieren? Alles scheint dem Motto "Dort musst du mal gewesen sein!" zu folgen. Istanbuler Hipstergrammer machen mit ihren Smartphones spontan Modeshootings vor abgebrannten Autowracks und teilen diese auf Twitter.
Überhaupt sind Twitter und Facebook, so wie bei den Protesten in Griechenland, in Spanien und beim Arabischen Frühling, die Lebensadern dieser Protestbewegung. Im Internet verbreiten sich die neuesten Sprüche und Videos blitzschnell. Humor, Sarkasmus und Zynismus sind die wichtigsten Waffen der RegierungsgegnerInnen. In den letzten zwei Wochen sind aus der Bewegung so viele kreative Ideen hervorgegangen, dass sich sogar ein neuer Arbeitsmarkt gebildet hat. Werbefirmen bieten cleveren SloganschreiberInnen Jobs an und einige Firmen versuchen, "Capulcu" zu patentieren. Die lässige Atmosphäre voller Promis und "Trend-Kapitalismus" verwandelt sich nachts in Straßenschlachten mit Tränengas und Wasserwerfern.
Die skeptischen "Anderen"
Die Lage in Istanbul und Ankara entspannt sich seit Tagen nicht, dennoch muss sich Erdogan wohl nicht fürchten. Istanbul ist mit über 13 Millionen EinwohnerInnen eine der größten Metropolen der Welt. So zynisch es klingt: da braucht es einfach mehr Leute, um die Regierung zu Neuwahlen zu zwingen.Wieso aber nehmen nicht mehr Leute an den Demos teil?
Das liegt vor allem daran, dass die Gezi-Bewegung es bisher nicht geschafft hat, die "Anderen" von ihrer Sache zu überzeugen. Diese Anderen bestehen mittlerweile nicht ausschließlich aus Erdogans Wählerschaft. Alle Parteien von Mitte-Rechts bis Rechtsaußen verurteilen die Besetzung des Taksim-Platzes und bleiben den Versammlungen fern. Richtig protestiert wird nur in Istanbul, Ankara und den Küstenstädten Izmir und Adana. Die anatolischen Städte bleiben von den Demos quasi unberührt.
Selbst die Kurden verhalten sich eher zurückhaltend und das nicht ohne Grund.. Am Samstag solidarisierte sich zwar Abdullah Öcalan, der Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, von seiner abgelegenen Gefängnisinsel aus mit dem Protest. Das führte aber eher zu einer Schwächung der Bewegung. Am Sonntag gab es auf dem Taksim-Platz Auseinandersetzungen zwischen Kurden und nationalistischen Ultrakemalisten.
Wo Gezi aufhört, fängt Kasimpasa an
Weil die Gezi-Bewegung mit internen Streitigkeiten zu tun hat und sich derzeit einzig auf die Wut auf Erdogan einigen kann, fehlen ihr die Sympathien anderer Bevölkerungsschichten. Seine GegnerInnen sehen in Erdogan einen abgehobenen autoritären Herrscher, für seine UnterstützerInnen hingegen ist er weiterhin ein bodenständiger Aufsteiger aus den eigenen Reihen. Diese emotionale Bindung der AKP-Basis zu ihrer Parteispitze ist nicht so leicht aufzulösen.
Die Situation birgt einige Ironie in sich, denn die RegierungsgegnerInnen, die sich als die Unterdrückten begreifen, kommen eher aus den oberen Schichten, während Erdogan seine Stimmen aus der unteren Mittel- und Unterschicht schöpft.
The Economist
Deswegen sind die Gezi-DemonstrantInnen auch klar gegen eine Abstimmung um die Zukunft des Parks. Die würden sie vermutlich verlieren, denn am Rand des Gezi-Parks liegt Kasimpasa, jenes Armenviertel, aus dem Erdogan stammt und wo er hohe Beliebtheit genießt. Die Stimmen aus Kasimpasa würden wohl reichen, um die "Bobos" vom Taksimplatz zu überstimmen.
Gleichartig Heterogen
Die Gezi-Bewegung muss sich der kritischen Frage stellen, wieso Kasimpasa, das nur zehn Minuten vom Park entfernt ist, weiter hinter Erdogan steht. Die Beantwortung dieser Frage und das Ausmaß an Überzeugungarbeit, die in den nächsten Tagen von den Capulcular geleistet werden wird, sind von zentraler Bedeutung für den Fortbestand der Gezi-Bewegung.
Am Gezi-Park trifft sich jeden Tag eine bunte Mischung aus KünstlerInnen, Intellektuellen, AkademikerInnen, KemalistInnen, NationalistInnen etc. Solange sich die auf den ersten Blick heterogene Protestbewegung aber auf Menschen beschränkt, die Erdogan ohnehin nie gewählt haben, wird sie nicht viel bewirken. Nur wenn die Bewegung auch die Interessen und Wünsche der Erdogan-AnhängerInnen verstehen und respektieren lernt, kann sie einen nachhaltigen und konstruktiven Beitrag zur Demokratisierung der Türkei leisten.