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Robert Zikmund

Wirtschaft und Politik

11. 6. 2013 - 17:55

Wunsch nach Mitspracherecht in der Türkei

Über das Politikverständnis der Protesbewegung und Strategien der Erdogan-Regierung: Politikwissenschaflter Ilker Ataç im Interview.

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Dienstag früh hat die Polizei den besetzten Taksim-Platz in Istanbul gestürmt. Mit Baggern und unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschoßen wurde vorgegangen, und es ist wieder zu Zusammenstößen mit Demonstranten gekommen. Ursprünglich ist es bei diesen Protesten darum gegangen, dass ein Einkaufszentrum in dem auf dem Platz gelegenen Gezi-Park gebaut werden sollte. Mittlerweile haben sich die Proteste aber ausgeweitet auf Proteste gegen Regierungschef Recep Tayib Erdogan und seine konservative Politik in der Türkei.

Zu Gast in Connected war zu diesem Thema Ilker Atac, Politikwissenschaflter an der Uni Wien; er war am vergangenen Wochenende in der Türkei, wo er sich selbst ein Bild von den Protesten gemacht hat.

Robert Zikmund: Sie kommen gerade aus Istanbul, waren am Wochenende noch direkt am Taksim-Platz. Jetzt hat gestern – oder besser gesagt heute früh – die Polizei den Platz geräumt, das Lager der Protestierenden gestürmt. War das schon abzusehen in den letzten Tagen? Und was bedeutet das jetzt, was ist da passiert heute früh?

Ilker Ataç: Am Wochenende habe ich mit mehreren Menschen, die im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz sind, gesprochen. Es gab Angst und Sorge und eigentlich meinten viele, dass es bald zu einer Stürmung durch die Polizei kommen wird. Ein paar glaubten von Sonntag auf Montag, andere meinten von Montag auf Dienstag. Eigentlich wurde das also erwartet.

Jetzt konnten wir gerade vorher lesen, Erdogan danke der Polizei für das harte Durchgreifen. Wie nimmt denn die Bevölkerung in der Türkei das auf, auch diejenigen, die nicht demonstrieren?

Das ist ganz unterschiedlich. Sowohl gestern als auch heute hat der Premier Erdogan einen großen Unterschied zwischen den "Guten" und den "Bösen" gemacht. Das war auch im Park dauernd das Thema. Aber die Stärke der Bewegung ist gleichzeitig, dass sie sehr viel über soziale Medien kommuniziert, also Twitter und Facebook und solche Sachen. Die Protestierenden sind da auch wirklich sehr witzig und sehr kreativ und geben auch Antwort auf diese Anmerkungen des Premiers und von Regierungsmitgliedern. Es das ist schon die dominante Strategie der Regierung: Da gibt es ein sehr starkes Bemühen um die Illegalisierung der Bewegung. Noch heute Vormittag gab es eine Rede im Parlament, da geht es dann um Sachen die eigentlich gar nicht stimmen.

Demonstranten in Istanbul

APA

Sie waren am Wochenende in Istanbul. Wer sind die Menschen die protestieren? Hierzulande entsteht oft das Bild, es sei vor allem die Oberschicht aus den Städten. Und die Anhänger von Erdogan wären dann eher die einfachen und die religiösen Menschen vom Land. Ist das wirklich so oder ist das ein bisschen zu einfach?

Ich glaube, es ist tatsächlich ein sehr buntes Bild. Es gab letzte Woche eine Studie mit 3000 Menschen, die jetzt im Gezi-Park sind. Die Studie wurde von einer Universität durchgeführt, und ist, glaub ich, schon mehr oder weniger repräsentativ. Und sie besagt, dass sich 60% von denen, die dort gerade Politik machen, keiner politischen Partei zugehörig fühlen und auch vorher nicht politisch organisiert waren. Gleichzeitig sieht man auch all diese Gruppen, die klassischen politischen linken Gruppierungen, Feministinnen sind sehr stark vertreten, es gibt aber auch kurdische Gruppen. Das gibt es eine große Vielfalt. Der Eindruck, den ich hatte, war, dass es in den letzten Tagen auch mehr Bemühungen gibt, gemeinsame Versammlungen abzuhalten, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Es ging auch sehr stark darum, welche Regeln es im Gezi-Park geben soll und viele Strategie-Diskussionen.

Wenn man sich den Taksim-Platz anschaut, sieht man, dass auch viele Fußballfans zusammen protestieren. Das war ein schönes Bild, das vermittelt wird. Auf der anderen Seite sieht man dann Erdogan irgendwo eine Rede schwingen, vor Menschen, die dann auf die Demonstranten einschimpfen und sie als Abschaum und so weiter bezeichnen. Besteht nicht die Gefahr, dass die Türkei da auf eine Spaltung zuläuft und die Sache dann noch gefährlicher wird?

Das ist eine Strategie der AKP, die es auch immer in dieser Form gegeben hat. Das ist nichts Neues. Die AKP macht gerne in ihrem Diskurs dieses „Wir gegen die Anderen“ bzw. „Die anderen gegen uns“. Obwohl sie schon seit elf Jahren an der Regierung sind. Ja, es gibt diese Spaltungsgefahr. Der Punkt ist aber, dass diese Bewegung eigentlich ein ganz anderes Politikverständnis hat. Deswegen ist sie auch für die Demokratisierung wichtig. Die Bewegung ist entstanden, weil es eine Oppositions-Lücke gibt. Es geht hier auch um die Gestaltung des öffentlichen Lebens, um die Privatisierung, und da wollen die Leute, die dort wohnen auch mitsprechen können. Und es ist diese Gegenüberstellung zwischen den Menschen, die auf eine bestimmte Form der klassischen Politik stehen, und anderen Menschen, die eigentlich diese Form der repräsentativen Demokratie in Frage stellen.