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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

6. 6. 2013 - 14:48

Wer sind die Capulcular?

Die türkischen Demonstranten nennen sich jetzt "Capulcular". Es gibt viele von ihnen, doch nicht alle Capulcular verfolgen die gleichen Ziele.

Mehr zu den Protesten:

Über das Politikverständnis der Protesbewegung und Strategien der Erdogan-Regierung: Politikwissenschaflter Ilker Ataç im Interview. (11.6.2013)

Zehntausende demonstrieren in türkischen Städten gegen die Regierung. Ist die Protestbewegung international vergleichbar? (3.6.2013)

UmweltschützerInnen sind in der Türkei keine besonders beliebte Gruppe. Manchmal tauchen sie im Fernsehen auf, erzählen etwas über Straßenhunde oder nachhaltige Entwicklung. Aber ehrlich gesagt: Das sind keine Themen, die in der Türkei den Alltag bestimmen. Vor allem nicht in der Politik, wo es immer um knallharte Ideologien geht: Kemalismus, Nationalismus, politischer Islam oder kurdischer Separatismus.

Die großen Staudamm-, Atomkraft- und Autobahnprojekte der letzten Jahre schafften es nicht einmal annähernd, so viele Leute zu mobilisieren. Es ist also überraschend, dass aus einer Baumschützer-Bewegung, die gegen den Umbau des Gezi-Park am Rande des Istanbuler Taksim-Platz protestierte, eine Massenbewegung gegen die türkische Regierung entstehen konnte. Und das liegt nicht nur daran, dass die Polizei mit massiver Gewalt vorgegangen ist. Das ist nämlich keine Neuheit in der Türkei und auch kein Alleinstellungsmerkmal der jetzigen AKP-Regierung.

Die Türkei ist seit Jahren frei von Wirtschaftskrisen und Militärputsch; der Jahrzehnte alte bewaffnete Konflikt zwischen der kurdischen PKK und dem Staat scheint ein Ende gefunden zu haben. Eigentlich ist das Land also so stabil wie nie zuvor in seiner Geschichte. Wieso gibt es aber jetzt dennoch Unruhen?

Proteste in Istanbul

EPA

Vor allem junge Leute nehmen an den Demos in Istanbul teil.

Mehr als ein Platz

Taksim ist unbestreitbar der wichtigste Platz der Türkei und hat eine enorme symbolische Bedeutung. Am 1. Mai 1977 verloren 34 Menschen auf diesem Platz bei der Mai-Kundgebung ihr Leben. Ein Ereignis, das immer noch nicht aufgeklärt und vor allem - wie andere ähnliche Fälle in der türkischen Gesellschaft - nicht ausreichend aufgearbeitet worden ist. Jeder 1. Mai weckt in der Türkei Erinnerungen an dieses Ereignis, und jedes Jahr steht erneut zur Debatte, ob der Taksim-Platz für die Mai-Kundgebungen frei gegeben wird. Dieses Jahr wurde er wegen angeblicher Bauarbeiten gesperrt, was bei Regierungsgegnern für Unmut gesorgt hat.

Berühmt und Berüchtigt

Capulcu heißt auf türkisch "Plünderer" und wurde als abwertender Begriff von Erdogan eingeführt. In kurzer Zeit haben die RegierungsgegnerInnen den Begriff vereinnahmt und bezeichnen sich jetzt stolz als Capulcular.

"Nimm deine Mutter und hau ab", ein Zitat von Erdogan, gerichtet an einen Nationalisten, der ihm vorgeworfen hat, dass er die Mütter der türkischen Märtyrer (Soldaten, die in Kämpfen mit der PKK gestorben sind) zum Weinen gebracht hat. Während viele NationalistInnen entsetzt waren, hat der Spruch Erdogan unter anderem bei vielen Liberalen Pluspunkte gebracht.

Die Regierungsgegner haben übrigens in der Türkei einen neuen Namen: Sie heißen Capulcular. Ihren Namen haben sie von ihrem Gegner Recep Tayyip Erdogan bekommen. Der ist für seine direkte Art berühmt und berüchtigt. In den letzten Jahren hat er sich mit der „One-Minute-Affäre“ und mit Sprüchen wie „Nimm deine Mutter und hau ab“ bei vielen beliebt gemacht. Und das sollte nicht vergessen werden: Der Mann ist nach wie vor bei breiten Schichten wahnsinnig beliebt. Als eine Art „Anti-Atatürk“ ist Erdogan der Held der religiös-konservativen Gruppen der unteren Mittelschicht und Unterschicht, die jahrelang systematisch aus dem politischen Geschehen der Türkei ausgeschlossen wurden.

Proteste in Wien

Radio FM4

Atatürks "Kinder" auch bei einer Demo in Wien. Auf dem T-Shirt steht: "Wir sind Atatürks Soldaten"

Die alten Capulcular

Es ist also auch eine gewisse Ironie, dass jetzt ausgerechnet die säkulare Mittelschicht und Elite gegen den autoritären Kurs von Erdogan protestiert. Das Blatt scheint sich gewendet zu haben. Auch wenn der Protest sehr heterogen ausfällt, wird er bis jetzt hauptsächlich von der alten kemalistischen Elite getragen. Die befürchtet Einschränkungen in ihrem Lifestyle durch neue Regulierungen, was den Alkoholverkauf betrifft.

Es geht der alten Elite auch um ihre kemalistische Ideologie, die unter der AKP viel an ihrer alten Bedeutung verloren hat. Besonders die neue Verfassung, die in den nächsten Jahren kommen wird, sorgt für Unruhe beim alten Status Quo. Die ersten vier semi-religiösen Absätze, die den Kemalismus als Staatsideologie festlegen, könnten gestrichen werden. Dass diese Angst auch diese Proteste antreibt, zeigt dieser Aufruf, der in der New York Times erscheinen soll. Dort soll noch einmal klar gestellt werden, dass die Capulcular keine Plünderer sind, sondern stolz das Erbe von Atatürk verteidigen.

Die neuen Capulcular

Wer diesen Aufruf gestaltet und den Text verfasst hat, ist mir nicht klar, aber eines steht fest: dieser Aufruf repräsentiert nicht die ganze Breite der Gezi-Bewegungen.

Die besteht zu einem großen Teil aus jungen Menschen, die sich jenseits der Parteienlandschaft bewegen und für die Atatürk nicht viel mehr ist als eine wichtige historische Persönlichkeit. Sie fühlen sich keiner Partei zugehörig, aber sie spüren alle die Folgen einer neoliberalen Politik und sind frustriert von Erdogans arrogantem Ton.

Eine Generation, die wir nicht nur in der Türkei, sondern auch in den verschiedenen Protestbewegungen in den USA, Europa und im Nahen Osten gesehen haben. Wirtschaftswachstum hin oder her. Viele junge Menschen in der Türkei blicken weiterhin unsicher in die Zukunft.

Diese neuen Capulcular sind die wichtigste Kraft dieser Protestbewegung, denn als 2007 bei den sogenannten "Republik-Demos" Millionen Menschen in der Türkei auf die Straßen gingen, forderten sie noch mit Sprüchen wie „Das Militär an seine Arbeit“ einen Putsch. Die Gezi-Park-Bewegung hingegen fordert mehr Demokratie, mehr Teilnahme am politischen Geschehen und mehr Meinungsfreiheit. Das unterscheidet sie von den früheren Protestbewegungen und zeichnet ihre Stärke aus.