Erstellt am: 3. 6. 2013 - 16:09 Uhr
Occupy Gezi? Türkischer Sommer?
Mehr zu den Protesten:
Über das Politikverständnis der Protesbewegung und Strategien der Erdogan-Regierung: Politikwissenschaflter Ilker Ataç im Interview. (11.6.2013)
Die türkischen Demonstranten nennen sich jetzt "Capulcular". Es gibt viele von ihnen, doch nicht alle verfolgen die gleichen Ziele. (6.6.2013)
Vor einer Woche haben Istanbuler BürgerInnen begonnen dagegen zu protestieren, dass Bäume in einem Park gefällt werden, damit dort ein Einkaufszentrum entstehen kann. Mittlerweile sind täglich Zehntausende auf den Straßen in mehreren Städten in der Türkei und wollen die Regierung stürzen. Das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrationen mobilisiert die Massen anstatt sie einzuschüchtern. Auch auf andere europäische Großstädte mit großen türkischen Communities wie Berlin oder Wien dehnen sich die Proteste aus. "Endlich wachen die Leute auf und unternehmen was!", sagt die Bloggerin Defne Suman heute in FM4 Reality Check.
EPA
Eine scheinbar von einem Tag auf den anderen entstandene breite Bewegung hat genug vom immer autoritäreren Führungsstil ihres mit 50 % der Stimmen demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan von der islamisch-konservativen AKP, der Partei Gerechtigkeit und Aufschwung. Religiöse und Säkulare, SunnitInnen und AlevitInnen, bislang verfeindete Fans großer Fußballclubs, KurdInnen und türkische NationalistInnen, Linke und Liberale - sie alle sitzen miteinander am Taksim-Platz. "Wir wollen uns nicht länger bevormunden lassen", erklärt eine Demonstrantin.
Occupy Gezi?
Schon ist international vom türkischen Frühling oder gar Sommer die Rede oder von Occupy Gezi (das ist der Park in Istanbul, in dem die Proteste ihren Anfang genommen haben). Inwiefern ist der türkische Aufstand mit dem arabischen Frühling oder der Occupy Bewegung vergleichbar?
OIIP
"Es bietet sich sehr an, dass diese Vergleiche jetzt gezogen werden. Tatsächlich haben alle diese Bewegungen - sowohl Occupy oder auch die Indignados in Spanien - eines gemeinsam: sie richten sich gegen das System. Die Menschen haben das Gefühl, dass ihre Stimme nicht zählt, sie fühlen sich ausgeschlossen. Man hat das Gefühl mundtot zu sein." erklärt der Politologe Cengiz Günay vom österreichischen Institut für internationale Politik.
In der Türkei sei das Gefühl der Omnipräsenz des Premierministers entstanden. Wie soll man sich ernähren? Wieviele Kinder soll man haben und wie soll man sie erziehen? Erdogan will eine islamisch-fromme Jugend erziehen. Er ist kein Diktator, hat aber in Anlehnung an die Tradition des Kemalismus, benannt nach Staatsgründer Kemal Ata Türk, die Vorstellung, das Land müsse von einem starken Mann geführt werden. Eine nun erstarkende Zivilgesellschaft hat von dem Führungsstil nun aber die Nase voll.
EPA/SEDAT SUNA
Fass zum Überlaufen gebracht
Warum haben ein paar Bäume in Istanbul nun den Ausschlag gegeben, die Regierung stürzen zu wollen? Warum haben nicht etwa größere Projekte wie die umweltpolitisch höchst problematische Errichtung des Ilisu Staudammes dazu geführt? "Das war jetzt wohl der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat", schlussfolgert Türkei-Experte Günay. Mehrere Faktoren hätten dazu geführt, warum es jetzt soweit war:
- In den letzten Monaten hat sich laut Günay die Frustration bei mehreren Bevölkerungsgruppen massiv verstärkt, weil sie Maßnahmen von Erdogan als Eingriffe in ihr Privatleben, als Angriffe auf ihren Lebensstil verstanden haben - etwa eine teilweises Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen.
- Die Türkei hat unter der AKP Führung zwar ein massives Wirtschaftswachstum erlebt, aber es zeigt sich nun, dass immer weniger Menschen davon profitieren bzw. bestimmte Unternehmergruppen dabei mitschneiden. Die Kritik an dieser Art eines ungebändigten Kapitalismus wächst.
- Und dann ist da noch die neue Bauwut. Satellitenstädte schießen im Zuge der Urbanisierung aus dem Boden, aber es ist durch das Wirtschaftswachstum nicht nur eine massive Konsumgesellschaft entstanden sondern auch ein neues Umweltbewusstsein. Früher musste man Bioprodukte im Supermarkt mit der Lupe suchen, jetzt gibt es einen Bioboom. Kein Wunder also, dass die geplante Vernichtung einer Grünfläche als Protestzünder fungierte.
Als dann die Polizei auch noch - viele kritisieren, dass Erdogan die Armee zurückgedrängt und gleichzeitig den Polizeistaat aufgebaut hat - den Protest am Taksim Platz gewaltsam aufgelöst hat, gab es keine Zurückhalten mehr. Cengiz Günay schätzt, dass die Proteste nicht so bald aufhören werden, weil der "Regierungsschef nicht zu verstehen scheint, um was es geht. Insgesamt ist die türkische Gesellschaft freier und vielfältiger geworden und sie will sich das nicht mehr nehmen lassen."