Erstellt am: 2. 6. 2013 - 16:19 Uhr
Die Wiederverzauberung der Welt
FM4 Im Sumpf zur Kunstbiennale in Venedig: Eine Einschätzung plus Gespräche mit den Künstlern Mathias Poledna, und José Antonio Suárez Londoño.
Am Sonntag, 02.06. von 21:00-23:00 und danach 7 Tage on demand zum nachhören.
Und dann kam das, und dann kam jenes: Die Französin Camille Henrot, die soeben in Venedig mit dem Silbernen Löwen als beste Nachwuchskünstlerin ausgezeichnet wurde, hetzt in ihrem beatgetriebenen Video Grosse Fatigue durch die Schöpfungserzählungen und Mythen der Geschichte. Sie öffnet dazu in Computerästhetik einzelne Fenster zur Welt und zu signifikanten Objekten der Anthropologie, die sie in Museen gefunden hat: "And then there was Mathematics, and then there was Physics, and then..." Henrots Werk könnte man als rasant auf- und zugeschlagene Enzyklopädie verstehen, die uns mit einer Flut an Bildern und Tönen zur Klassifikation der Phänomene und Begriffe füttert – und zugleich von der Unmöglichkeit eines universalen Wissens kündet. Plötzlich diese Übersicht heißt die berühmte, aus über 200 Teilen bestehende Lehmskulpturengruppe von Peter Fischli und David Weiss, die man anderswo zu sehen kriegt, aber das ist natürlich nur ein ausladender Deadpan-Witz über den Komplettismuswahn.
Thomas Edlinger
Massimiliano Gioni, ein junger Shootingstar unter den Jägern der verlorenen Kunstschätze, verantwortet die Ausstellung im zentralen Pavillon und im Arsenale von Venedig. Sie heißt Der enzyklopädische Palast und bezieht sich auf einen himmelstürmerischen Plan des Kunstautodidakten Marino Auriti von 1955. Der Italoamerikaner wollte unter diesem Titel ein Museum für das Wissen und die Dinge dieser Welt einrichten, ein gigantisches, 700 Meter hohes Gebäude in Washington, das vom Rad bis zum Satelliten alles speichern und archivieren sollte.
Thomas Edlinger
Nun eröffnet das Modell dieses Wolkenkratzers den Ausstellungsparcour im Arsenale. Mit viel Gespür für Wirkung, Rhythmus und Atmosphäre gesetzt, entfaltet sich nach diesem Auftakt ein Bilderreigen, der die menschliche Phantasie des Individuum und nicht die scientific community als Quelle für ultimative bildgebende Verfahren feiert. Zu einem guten Drittel sind es Outsider, Dilettanten, und zustandsgebundene Künstler, die hier ihre Obsessionen, Manien und Idiosynkrasien ausbreiten. Stachelige Terrakottamonster, gezeichnete Fabeltiere, überfließende Möbel mit phallischen Ausfaltungen, okkulte Malerei, spirituelle Ornamentik, esoterische Kosmologien und private Mythologien – all das steht hier nicht nur gleichberechtigt arrivierten (und oft geistesverwandten) Künstlerpositionen gegenüber, sondern wird auch in formale Beziehungsgeflechte zu ihnen eingesponnen. Die Präsentationsform ist, nicht nur im zentralen Pavillon, überraschend brav und museal. Sie offenbart eine herbeikuratierte Liebesaffäre von Art Brut und High Art.
Thomas Edlinger
Das Surreale im Sinn einer schöpferischen Weltverformung unter Zuhilfenahme des Unbewussten oder anderer irrationalistischer Eingebungen wie Drogen, Esoterik oder Religion ist das herrschende Stilprinzip. Der kunsthistorisch abgesegnete Surrealismus trifft auf seine verschwurbelten Echos in den Köpfen der Autodidakten und all jener, die - teils auch aufgrund von sensorischen Defekten - etwas wahrnehmen, was andere nicht wahrnehmen. Die politischen Dimension, die der historische Surrealismus noch in seinem vieldiskutierten Verhältnis zum Kommunismus ausagierte, bleibt freilich ausgespart.
Thomas Edlinger
Die Serie ist als dramaturgisches Prinzip prominent vertreten, aber sie wird nicht als technische Reproduktion und schon gar nicht als geniekritische Aushebelung des Originalitätsbegriffs verstanden, sondern als verschlungene Wucherung, als Anhäufung, als Modulation einer Idee. Diese zeigt sich in den erratischen Keramikobjekten von Ron Nagle, in den feingliedrigen Literaturillustrationen in Notizblockformat von José Antonio Suárez Londoño, oder in den dynamisch komponierten Farbfotografien von Viviane Sassen. Robert Crumbs Comic über die Genesis wird Seite für Seite fast nahtlos an die Wände eines Saals und dessen runden Wandeinbaus genagelt und erscheint so als sich windender Fortsetzungsroman mit expliziten Bildern im Raum.
Viele der Werke im enzyklopädischen Palast sind wie das Buch von Crump nicht neu. Und auch die Medien sind konservativ und von einem Hang zum Handwerk geprägt: viel sehr bunte Malerei und kaum Video, wuchtige Skulpturen und kaum technisch anspruchsvolle Multimediainstallationen, Fotografien statt der momentan so angesagten Performance, Arte Povera-Wunderkammern statt High Tech- Minimalismus. Bezeichnend für diesen Zugang ist eine von der Foto- und Filmkünstlerin Cindy Sherman subkuratierte Sektion, die auf relativ engem Raum eine Vielzahl von künstlerisch etablierten und amateuristischen Zugängen zum Dauerbrenner Körper anhäuft.
Thomas Edlinger
Anderswo sind die Grenzen zwischen Weltdeutung, Welterfindung und Weltflucht kollabiert. Das heißt natürlich nicht, dass in dieser Grauzone nicht faszinierende Bilder und Objekte herauskommen können. Nur müssen sich etwa die stacheligen und doch auch eigentümlich niedlichen Terracotta-Monster eines Autisten wie Shinichi Sawada nicht von einem Publikum oder von anderen Werken in derselben Weise befragen lassen wie eine auf Veröffentlichung ausgerichtete Kunstproduktion.
Der Kultursoziologe Bruno Latour hat einmal griffig formuliert: Wir sind nie modern gewesen. Er meint damit, dass die Moderne das Zeitalter der großen Trennungen (von Individuum und Gesellschaft, Natur und Kultur, von uns und "den Anderen") war, unter deren Einfluss man gar nicht sehen konnte, dass sich diese Epoche möglicherweise selbst nur als ein relativ kurzer Einschnitt in der Geschichte erweisen könnte. Die Kunstbiennale in Venedig ist in dem Sinn eine nachmoderne (und zugleich an diese ganzheitlichen Idee vor der Moderne andockende) Ausstellung. Denn sie kümmert sich weder um das Erbe der Moderne noch schert sie sich um eine Verpflichtung auf sie. Sie feiert, ganz ohne die lange Zeit angesagten Referenzdiktate, den Fetischismus der Bilder und die Magie der Objekte zwischen Ost und West, zwischen Süd und Nord, zwischen 2013 und irgendwann. Dieses Pochen auf die Heterogenität des Bilder bekäme schnell den Vorwurf der apolitischen Beliebigkeit, wenn das ganze Unternehmen nicht einen Umweg nähme: Erst die aufgetürmte Liebe zu einer globalisierten und damit auch enthierarchisierten Outsider-Art ermöglicht die Reauratisierung der Kunst und den Triumph des eigensinnigen Subjekts. Man darf wieder staunen.
Thomas Edlinger
Zugleich aber ermöglicht dieser Trick auch die Entlastung von der mühsamen und leider oft auch zum Pflichtritual verkommenen Aufgabe der Kritik an zeitgenössischen Bildern und Diskursen. Nicht zufällig vielleicht wird derzeit in Venedig in der Fondazione Prada auch eine Ausstellung als Rekonstruktion einer Ausstellung des legendären Kurators Harald Szeemann von 1969 in Bern gezeigt: Sie hieß damals When Attitudes Become Form. Dem enzyklopädischen Palast fehlt aber der Verweis auf Haltungen aus denen Formen abgeleitet werden könnten. Er sammelt Formen, ohne deren gesellschaftliche Grundlagen zu diskutieren. Er redet nicht von der sozialen Gegenwart, von den Lügen der Politik, den Härten der Krise und schon gar nicht von der sonst so vielbeklagten teuflischen Schläue des Kapitalismus, sondern testet aus, welche unkorrumpierten Gegenwelten in diesem korrumpierten Weltganzen noch vorstellbar sind oder waren.