Erstellt am: 29. 5. 2013 - 12:05 Uhr
Flip the Script - die Kunst der Handstyles
Graffiti und Street Art sind dieser Tage medial wieder einmal omnipräsent: während die Deutsche Bahn ankündigt, Sprayer zukünftig mit Kamera-bestückten Drohnen jagen zu wollen, erfreuen sich diverse Festivals und Ausstellungen mit einem Fokus auf genau diese Kunst großer Beliebtheit. Einst gejagte Sprayer verdienen heute viel Geld, wenn sie im Museum ausstellen - oder zahlen viel Geld, wenn sie für die gleiche Tätigkeit im öffentlichen Raum erwischt werden. Eine etwas schizophräne Geschichte.
Gingko Press
Man denke an die kurzsichtigen Besitzer diverser Naschmarkt-Stände, die 2003 illegal angebrachte original Banksy-Schablonen von ihren Fassaden entfernt haben. Mit dem Wissen von heute würden diese Banksy-Bilder wahrscheinlich Pilgerstätten vom Naschmarkt sein bzw. die Stand-Besitzer für die nächsten 30 Jahre ihre Miete bezahlen können. Zugegeben: ich empfinde eine gewisse Schadenfreude bei diesem Gedanken, denn er ist exemplarisch für den widersprüchlichen Umgang mit Graffiti.
"Hässliche Tags"
"Die bunten Bilder sind super, aber diese hässlichen Tags" - ich höre diese Mantra-artige Aussage fast jedes Mal, wenn ich mit Menschen über Graffiti spreche. Meine Antwort ist immer dieselbe: Ohne Tags keine bunten Bilder. Meist stecken die gleichen Personen dahinter und ist der Tag (= das schnell geschriebene Namenskürzel) die Basis für die schönen, bunten Bilder. Der schnelle Tag ist sozusagen das ABC der Graffiti-Kunst und Grundlage für das Erlernen von einheitlichen Schriftbildern, Styles und Strichführung. Quasi die Visitenkarte eines Graffiti-Writers, oft angebracht an frequentierten Stellen, wo ein buntes, ausgefeiltes Bild aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich wäre.
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Christian P. Acker, der Herausgeber von "Flip the script", hat sich in den letzten Jahren intensiv mit sogenannten "Handstyles" und ihren Ursprüngen auseinandergesetzt.
Denn jede Region hat im Laufe der Jahrzehnte eigene Schriftbilder entwickelt und markante Stile hervorgebracht. Ein Graffiti-Sprüher aus San Francisco malt tendenziell anders als ein Writer aus Philadelphia oder Wien. Wobei diese regionalen Unterschiede aufgrund des Internets immer mehr verschwimmen und sich gegenseitig beeinflussen.
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"Flip the Script" widmet sich der puristischsten Form von Graffiti: den Tags. Anhand umfangreicher Gespräche und Recherchen wird akribisch nach den Ursprüngen von Styles geforscht und die deutliche Parallele von Graffiti zur fast vergessenen Kunst der Kalligrafie herausgearbeitet. Menschen haben seit den Ursprüngen der Schrift an ihren Schriftbildern gefeilt. Eine Tradition, die in Zeiten von Laptops und Tablet-Computern immer mehr in Vergessenheit gerät. Graffiti-Writer sind mitunter die letzten Menschen, die sich intensiv mit der Weiterentwicklung und Platzierung von Handschrift im öffentlichen Raum befassen.
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Ein interessantes Buch für Typographen und Grafiker
Mir ist kein vorgefertigter Graffiti-Font bekannt, der funktioniert und gut aussieht. Das kann man auf den zahlreichen Flyern und Werbeanzeigen beobachten, die von Menschen gestaltet wurden, die nichts mit Graffiti zu tun haben.
"Flip the script" ist bei Gingko Press erschienen, kommt als Hardcover und hat 224 Seiten inklusive zahlreicher Farb-Illustrationen.
Daher ist "Flip the Script" unter anderem ein sehr wertvolles Buch für Menschen in der Kreativ-Branche. Erstmals können Typographen und "Szene-Outsider" wissenschaftlich über Handstyles lesen und ein Verständnis für diese Art von Schriftbild erlernen. Außerdem wird die Kunst und Tradition hinter den vermeintlich "schirchen Schmierereien" erklärt. Nicht jeder Tag ist Kunst, das möchte ich an dieser Stelle betonen. Doch Tags im urbanen Raum pauschal zu verteufeln und buntes Graffiti und Street Art cool zu finden, geht ebenso wenig.
Und kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument "Was würdest du tun, wenn jemand dein Haus anmalt?", denn: ich würde es mit Sicherheit so lassen.
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