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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

25. 5. 2013 - 11:23

Lolita revisited

Die schwedische Feministin Sara Stridsberg entwirft im Roman "Darling River" moderne Versionen der jugendlichen Verführerin: Lolita als misshandeltes Kind, als männerverschlingender Vamp, als Mutter, Opfer und Täterin.

Lolita - dieser Name steht als Synonym für die Kindfrau, die jugendliche Verführerin, die selbst noch nicht weiß, was sie mit ihrer Sexualität anfangen soll. Die Figur gibt es seit 1955 und stammt aus dem gleichnamigen Roman vom russisch-amerikanischen Autor Vladimir Nabokov. Darin zwingt ein Stiefvater seine angeheiratete Tochter zu einer Odyssee durch die Vereinigten Staaten, und lebt mit ihr in einer sexuellen Beziehung, aus der das Mädchen schließlich ausbricht.

Diesen Stoff hat die schwedische Feministin Sara Stridsberg nun zu einem modernen Roman verarbeitet, der ebenfalls mit einer Reise durch die USA beginnt:

Cover Darling River

S. Fischer Verlag

"Darling River" wurde von Ursel Allenstein vom Schwedischen ins Deutsche übersetzt, und ist im S. Fischer Verlag erschienen.

Ich wurde leicht seekrank. Ich erbrach mich in kleine, durchsichtige Tüten, die Vater aus dem Fenster warf, nachdem er ihren Inhalt unter dem knisternden Licht untersucht hatte. Häufig enthielten sie nur Süßigkeiten und kleine Mengen Alkohol und Schlaftabletten. Ich entwickelte eine Kunst, mich unauffällig zu erbrechen.

Lo, so heißt die Protagonistin von heute, verbringt ihre Zeit statt in der Schule auf der Rückbank des Jaguars ihres Vaters. Der fährt damit absichtlich Tiere auf der Autobahn tot, zerschießt die Unterwäsche seiner Ex-Frau und gibt seine Tochter bisweilen als seine Geliebte aus. Lo sieht in ihm trotzdem ihren Beschützer. Die Prostituierten, die er ins Auto holt, nennt sie ihre Schwestern und die unzähligen Liebhaber, die sie ein paar Jahre später ans Ufer des Darling River mitnimmt, nennt sie ihre Brüder. Sie findet das normal. Als typisches Opfer hat sie weder ein Gefühl für Anstand noch für ihre eigenen Grenzen:

Ich werde stets Fehleinschätzungen vornehmen und alles, was mir passiert anders verstehen als andere. Erlebnisse, die ich selbst als Erfolge begreife, wird meine Umgebung immer als Niederlagen auffassen. Was ich als Liebe deute, ist in den Augen meiner Umwelt nichts anderes als Gewalt und Feindseligkeit.

Die Frau als Opfer, Hure oder Ungeheuer

Porträt Autorin Sara Stridsberg

Laurent Denimal

Sara Stridsberg - Jahrgang 1972 - gilt als eine der interessantesten feministischen Schriftstellerinnen Schwedens.

In weiteren Erzählsträngen erzählt Stridsberg von Los Vergangenheit und Zukunft. Eine Fotografin und Pilotin - wahrscheinlich Los Mutter - macht absichtlich eine Bruchlandung, und eine Hochschwangere - Lo selbst - wird von einem Kriegsveteranen nach Alaska entführt.

Schließlich ist da noch die Geschichte eines Affen-Weibchens im Paris der 40er-Jahre, dem ein Wissenschaftler mit sadistischen Methoden das Zeichnen beibringt. Er möchte die Menschlichkeit der Primatin beweisen.

Erneut sitzt er neben ihr auf dem Käfigboden und hält den Spiegel vor ihre aneinandergepressten Gesichter. (...) "Du bist wirklich ein widerwärtiges Mädchen. Widerwärtig. Und aus diesem Grund will ich dich nicht aufgeben. Niemand sonst wird dich so schonen, wie ich es getan habe."

Stridbergs Männerfiguren schwanken stets zwischen Fürsorge und Sadismus, sehen das weibliche Wesen als das große Unbekannte an und verwechseln Gehorsam mit Zuneigung. Sie üben Gewalt und Kontrolle aus. Die Frauenfiguren dagegen ordnen sich unter und erscheinen als Opfer, Hure oder Ungeheuer.

Gerade durch die Übertreibung will die feministische Autorin diese typische Mann-Frau-Dichotomie wahrscheinlich überkommen. Dummerweise verfestigt sie damit aber althergebrachte Positionen. Ihre Protagonistinnen verachten sich selbst und sind gegenüber ihrer Weiblichkeit feindselig: Die Pubertät wird als eklige Metamorphose erlebt, die Geburt eines Kindes als Albtraum aus Schleim und Blut, Sex als schmutziges Spiel.

Nett zu lesen oder gar progressiv ist Stridbergs Roman nicht. Er übt eher eine Faszination wie ein Verkehrunfall aus: Sehen will man's nicht, hinschauen muss man trotzdem.