Erstellt am: 17. 5. 2013 - 23:45 Uhr
Orientierung
Lissabon liegt ja wie Rom auf sieben Hügeln und das erschwert die Sache für die Orientierungslosen nochmal mehr, denn was auf der Karte unterhalb liegt, ist vielleicht eher oben auf dem Berg angesiedelt, und was sich der geografieschwache Mensch im Lauf des Lebens mühsam eingeprägt hat - zum Wasser, zum Meer geht es immer eher bergab, nach unten - das stimmt hier in Lissabon überhaupt nicht!
Es ist ein Auf und Ab, Berg hoch, Berg runter und das bei Steigungen von geschätzten 85% - aber wahrscheinlich eher weniger, da die steilste Standseilbahn angeblich bloß 25% Steigung macht. Wie dem auch sei, die ganze Stadt ist irgendwie mehrstöckig angelegt, es gibt zwar die berühmten Aufzüge, die Elevadores, und die Seilbahnen, aber da stehen die Touristen Schlange und eine Fahrt kostet bis zu fünf Euro, da geht man dann halt in Gottesnamen auch zum fünften Mal den Berg wieder hoch. Ein Gutes hat die ungewohnte bergsteigerische Betätigung: Der Rippenschmerz wird schon am zweiten Tag von argem Muskelkater überlagert- so hat doch jedes Leiden etwas Gutes!
christiane rösinger
Das Ankommen in Lissabon war speziell. Man hatte für mich eine Unterkunft nahe der Metrostation „Intendente“ gebucht, eine recht heruntergekommene Gegend, die im Berliner Polizeijargon wohl als „gefährlicher Ort“ gelten würde. Viele Obdachlose liegen in den Hauseingängen und das Straßenbild zeigt fast schon post-sowjetischen Zerfall.
Ob das schon die Auswirkungen der Eurokrise sind, fragt sich die erstaunte Neuankömmling, aber man hat mich lediglich nahe der Lissabonner Drogenszene samt zugehörigem Prostitutionsgewerbe untergebracht.
Ein wenig anders hatte ich mir die Unterkunft für eine angereiste Schriftstellerin schon vorgestellt, aber einem geschenkten Stipendium schaut man nicht ins ...
Der Largo Intendente ist auch ganz neu gestaltet, die hintere Seite des Platzes wird Tag und Nacht von der Polizei überwacht, nur in der angrenzenden Straße herrscht rege Geschäftigkeit, man würde auf Crack oder andere synthetische Drogen tippen, für Heroin sehen sie, bei all dem Elend, dann doch noch zu gesund aus. Die Cornerboys lungern auf unnachahmliche Weise an den Ecken herum, ab und zu gibt es Stress und Geschrei, Tag und Nacht ertönen die Polizeisirenen. Als old-school Kreuzbergerin ist man von dieser Nachbarschaft jetzt nicht sonderlich irritiert, die Stadtbeobachterin will natürlich ergründen, was es mit der ständigen Polizeipräsenz bei gleichzeitigem Nicht-Eingreifen zu tun hat.
christiane rösinger
Da ich als Spätzünder erst vor kurzem „The Wire“ gesehen hab, ist sofort klar: Ich wohne an der Grenze zum Lissabonner Hamsterdam (temporäre Drogen- Freihandelszone in West-Baltimore)! Erst später erfahre ich von Einheimischen, dass mein neues Zuhause am Largo Intendente vor fünf Jahren noch einer der schlimmsten Plätze Lissabons war, Mord und Totschlag, Drogenkriminalität, Elendsprostitution.
Nach und nach wurden die verfallenen Häuser saniert, die Leute, die damals noch hier hausten sind jetzt obdachlos und haben sich ein Stück weiter nördlich auf einer Rasenfläche, ich nenne sie „Crackpark“ niedergelassen. Die Polizeipräsenz ist hier eher prophylaktisch, Drogenkosum ist in Portugal nicht strafbar.
Gentrification ist also überall, und als Pensionsgast bin ich diesmal auf der Seite der Gentrifizierer, wobei meine Pension nicht luxuriös ist, das billigste Zimmer kostet 20 Euro. Nach diesem Ankommen stand die erste Woche ganz im Zeichen des Powertourismus. Man muss soviel sehen, verstehen und auswendig lernen - Die Stadtteile Baixa, Barrio Alto, Alfama, Gracia besuchen, die wichtigen Plätze Chiado, Rossio, Carmo, Cameo unterscheiden.
christiane rösinger
Den Weg zum Fluss Tejo hinunter ist noch relativ einfach, die Unterstadt Baixa wurde nach dem großen Erdbeben 1755 im Schachbrettmuster angelegt, aber oberhalb der Baixa geht es drunter und drüber.Und kaum denkt man nach ein paar Tagen, nun kenne man sich ein bisschen aus, ist dann plötzlich der Chiado nicht mehr auffindbar.
Und eigentlich liegt der Chiado doch direkt beim Hauptplatz Rossio, aber immer wieder ist er wie vom Erdboden verschluckt und nicht mehr aufzufinden. Oder liegt er vielleicht am oberen Ende des Fahrstuhls auf dem Hügel und man muss den Weg steil bergauf nehmen? Nein, da liegt der Carmo, auch ein sehr schöner Platz - es ist zum Verzweifeln. Und keiner da zum Fragen, die anderen Touristen sind keine große Hilfe und auf dem Stadtplan ist alles so klein eingezeichnet, als läge der Chiado direkt am Rossio.
christiane rösinger
Auch das Ausgehen am Abend ist eine schwierige Angelegenheit. Die Reiseführer sagen, im Barrio Alot würde es voll abgehen, aber entweder ist es dort menschenleer, weil grad Sonntag oder Montag oder erst 22 Uhr ist, oder es ist so voll, dass die entkräftete Touristin entmutigt aufgibt und sich nicht in den Zug der Hostelhorden einreihen will.
Das schlechte Ausgehgewissen nagt und nagt: Du Versagerin! War es nicht immer die Pflicht, an jedem Ort in jeder Stadt die beste Bar und Undergroundlocation zu finden und komm mir nicht mit der lahmen Ausrede: „Aber ich bin doch schon 50 und ich nehme keine Drogen mehr und elektronische Musik und die Clubszene in Berlin interessieren mich doch auch nicht so!“ Das gilt nicht!
Immerhin: Ich stehe doch unter Schmerzmittel, ich hab doch die Rippe angebrochen und wenn man tagsüber stundenlang rumrennt, da darf man doch abends mal ausruhen, oder?