Erstellt am: 8. 5. 2013 - 14:45 Uhr
Wahrsager und Aberglauben
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Jeden Mittwoch in FM4 Connected (15-19)
Ich habe auch Angst davor, dass meine Nase bei einem wichtigen Treffen zu laufen anfängt und ich kein Taschentuch habe. Ganz gewöhnliche Sachen. Ich bin aber nicht wie meine Mutter. Trotz ihrer zwei abgeschlossenen Studien glaubt sie wirklich daran, dass die Fäden der „realen Welt“ von einer imaginären Kraft von der „anderen Seite“ gezogen werden. Als kleines Kind hatte ich immer wieder Alpträume. Meine Mutter brachte mich deswegen zu einer alten Türkin, die für mich Blei gießen sollte, um die Alpträume zu vertreiben. Die schnurrbärtige Frau warf das geschmolzene Blei ins Wasser. Es zerstreute sich in viele verschiedene Richtungen. Die Wahrsagerin sprang plötzlich triumphierend auf und zeigte auf eines der Stückchen: „Da, ein Huhn!“ Meine Mutter nickte zustimmend, obwohl überhaupt keine Hühner zu sehen waren, wenn man mich fragt. Das „Huhn“ aus Blei wurde nach Hause mitgenommen und unter mein Kopfkissen gelegt. Ihr könnt mir jetzt glauben oder nicht, aber die Alpträume verschwanden.

dpa/Peter Steffen
Sonst bin ich nicht abergläubisch. Ich trage keine Glücksbringer und Amuletten. In Österreich habe ich mitbekommen, das der gleiche Brauch – das Bleigießen, um die Zukunft zu bestimmen - zu Sylvester durchgeführt wird. Es werden sogar spezielle Löffelchen und Bleistücke verkauft. Der Aberglaube hat sich kommerzialisiert.
Das zweite Mal brachte mich meine Mutter zu einem Wahrsager, als ich mich für eine Uni und eine Studienrichtung entscheiden sollte. Der Wahrsager war wie aus einem Bilderbuch– knochig, mit riesengroßer Sonnenbrille, Gefängnistattoos und einen Goldring auf jedem Finger. Sein Büro befand sich im Erdgeschoss eines Plattenbaublocks. Außer als Wahrsager arbeitete er noch als Bestattungsagent. „Er wird studieren!“, sagte er gleich nachdem ich mich ihm gegenüber setzte. Der Wahrsager bestimmte, aber nicht, was genau. Ich weiß vielleicht deshalb bis heute nicht, ob ich mich für die richtige Studienrichtung entschieden habe.
Letzte Woche bekam ich eine Nachricht von meiner Mutter: „Ich habe deine Kolumne für nächste Woche geträumt!“ sagte sie. „Schreib über deine Ängste, ein roter Faden soll zerreißen und du sollst auf einem Fuß springen!“ Zuerst wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren soll. Wer glaubt heutzutage an so was?

Radio FM4
Ein bisschen später ging ich durch den Stadtpark spazieren. Ich sah einen Menschen, der einen Baum umarmte. Er war im mittleren Alter und trug einen Anzug. Neben ihm hatte er seine schicke Ledertasche auf dem Boden gelassen. Er streichelte den Baum und sprach mit ihm. Er war so vertieft in sein Gespräch mit dem Baum, dass ich fast auf den Zehenspitzen an ihm vorbei ging um ihn nicht zu stören. Später sprang ich paarmal auf dem einen Fuß. Ich hoffe alles, was der Mensch dem Baum erzählt hat, wird in Erfüllung gehen.
Jetzt suche ich einen roten Faden.