Erstellt am: 27. 4. 2013 - 12:14 Uhr
Polizeiruf Athen
Crossing Europe
Crossing Europe Filmfestival Linz,
noch bis inklusive Sonntag, 28. April 2013
Was geht da ab in Griechenland? Kurz vor Mittag hat ein junger Grieche auf der Leinwand seinen Finger erst in den Mund, dann in das Futterschälchen seines Kanarienvogels gesteckt und hungrig abgeleckt. Weil er sonst nichts zu essen hatte. Die Körnchen waren nicht das einzige, was er zu essen versuchte. Der Spielfilm "To Agori Troi To Fagito Tou Pouliou / Boy Eating The Bird's Food" ist nachhaltig deprimierend. Man denkt ja gar nicht, wie schnell sich gespielte Emotionen übertragen!
Schließlich wird in Linz beim Crossing Europe junges europäisches Gegenwartskino gezeigt, das nun mal überdurchschnittlich gut gemacht ist. Mal sehen, welche Geschichten junge griechische FilmemacherInnen über ihre Heimat erzählen wollen.
Crossing Europe Filmfestival
Polizeiruf Athen
Mehr Geschichten, ganz reale, zu Griechenland: Chrissi Wilkens berichtet für FM4 regelmäßig aus Athen.
Das in Nachrichten vielfach genannte "Chaos in den Straßen" von Athen bekommt in 100 - Alexandras 173, Athina Stimmen und Dimensionen. Der Filmemacher Gerasimos Rigas drehte in der Polizeinotrufzentrale in Athen eine Doku und liefert ein Panoptikum an Panik. Den Schauplatz, dieses Call-Center samt Polizeifunk und Logistikmanagement der Polizei verlässt man für die einstündige Dauer der Dokumentation nicht.
"100 (Alexandras 173, Athina)" ist ein Actionfilm der anderen Art. Jeder Anruf ist ein Bild und eine konkrete Geschichte. Zehn Männer mit Helmen wüten da auf der Straße, dreißig Leute auf Motorrädern sind es dort, und sie haben Molotococktails. Der Strom wurde von der Energieunternehmen abgedreht, doch in der Wohnung lebt ein Dialysepatient - darum sei das Abdrehen des Stroms illegal und die Polizei müsse was unternehmen. "Haben Sie ihre Rechnungen bezahlt?" Studentendemo - in Zweierreihen geparkte Lastwägen im Hafen. Eine Bombendrohung vor einem Ministerium. Eine verzweifelte Mutter und ein Mann, der fürchtet, dass seinem Vater Schlimmes zugestoßen ist. Er vermisst ihn und eines seiner Fahrräder. Bedrohliche Anrufe psychotisch wirkender Personen. Windschutzscheiben von Polizeiwägen werden eingeschlagen. Die Schwarzmarkthändler sind schon wieder da, und immer wieder seitens der AnruferInnen: "Ich hab' schon hundert Mal angerufen, aber die Polizei schert sich nicht!"
In der Konzentration auf die Gesichter der PolizistInnen und die Dialoge wächst die Anspannung. Alle Krisen, private und staatliche, kulminieren in dieser Polizeizentrale. Was zu tun ist und ob ein Streifenwagen vorbeigeschickt wird, obliegt der Einschätzung der jeweiligen BeamtInnen.
Crossing Europe Filmfestival
Langsam aber sicher überschnappen
Was passiert mit einem 23-Jährigen, der kein Geld mehr hat und in der griechischen Hauptstadt in einer kleinen Mietwohnung sitzt? Er wird zu einer jener Personen, die im Polizeifunk als "psychotisch" auffallen. Der 37-jährige Filmemacher Ektoras Lygizos hat mit "To Agori Troi To Fagito Tou Pouliou / Boy Eating The Bird's Food" eine radikale Psychostudie über den Verfall eines Menschen gemacht. Die Hauptfigur im Spielfilm verliert zunehmend den Verstand, "as if my brain was melting". Er ist einer jener Menschen, die in Athen mitten im Kapitalismus verhungern. Das hielt ich bislang für linke Polemik. Da schnappt einer langsam aber sicher über.
Dagegen wird in A.C.A.B. All Cats Are Brilliant" gegen den politischen Frust vor allem viel gegessen. Die Regisseurin Constantina Voulgaris zeigt ein Töchterchen aus gutem Hause, das die Liebe ihres Freundes zur Anarchie weiterträgt. Die Diskrepanz zwischen Privatem und Staat verpackt "A.C.A.B. All Cats Are Brilliant" in einen - im Vergleich zu "Boy Eating's Bird Food" netten - Spielfilm, der Aktionismus zwischen Naivität und konkreter Handlung thematisiert. Der griechische Titel bedeutet übersetzt "Herzlichen Glückwunsch an die Optimisten".
Beide Filme laufen im Wettbewerb des Crossing Europe. Heute Abend findet die Preisverleihung statt.
Crossing Europe Filmfestival
Ein Lieblingsfilm aus zehn Jahren Crossing Europe Filmfestival in Linz ist die griechische Produktion "Dogtooth". Der Film sei hiermit ausdrücklich empfohlen. Er wird am Samstag noch einmal gezeigt, das hat sich das Publikum gewünscht. Denn: "Bei 'Dogtooth' muss man viel lachen: Die Schauspieler haben großartige Gesichter, die Dialoge sind dadaistisch. Ein Nonsensuniversum, sollte man meinen, das für den Betrachter aber erstaunlich viel Sinn ergibt", wie es Markus Keuschnigg wunderbar auf den Punkt bringt: "Alles vergeht, im Leben wie im Kino: Und immer, immer wieder versuchen wir alle ewig zu sein, versuchen einen Zweck zu melken aus dem Chaos um uns herum, versuchen etwas zu schaffen, was bleiben wird. Im Innen oder im Außen."
Update: Crossing Europe Award an Ektoras Lygizos
Gelegenheit, die Gewinnerfilme nochmals zu sehen:
Sonntag, 28. April, am Crossing Europe Filmfestival Linz
Heute, Samstagabend, gewann der griechische Regisseur Ektoras Lygizos den Wettbewerb des Crossing Europe Filmfestival mit seinem Spielfilm "To Agori Troi To Fagito Tou Pouliou / Boy Eating the Bird's Food". Das Publikum kürte "Animals" von Marçal Forés zum Lieblingsfilm dieses Festivaljahrgangs, die Doku-Jury entschied sich für "Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern" von Peter Liechti. So viele, so wunderbare Filme.