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26. 4. 2013 - 14:35

27 Jahre Tschernobyl

Zu den am stärksten betroffenen Menschen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gehören die sogenannten „Liquidatoren“: Soldaten der ehemaligen Sowjetunion, die in Tschernobyl Dienst verrichten mussten.

Heute vor 27 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich in Tschernobyl die bisher größte zivile Atomkatastrophe. In der Folge verloren Hunderttausende Menschen rund um das Kraftwerk ihre Heimat. Das Sperrgebiet im Länderdreieck zwischen Ukraine, Weißrussland und Russland hat einen Radius von durchschnittlich 30 Kilometer. 2.600 km² Land gelten für Menschen als unbewohnbar. Doch nicht nur das Länderdreieck wurde verstrahlt – auch in Österreich gibt es heute noch Gebiete, in denen man besser nicht Schwammerln brocken sollte, etwa in der Kärntner Weinebene oder auf der steirischen Koralpe.

Umweltbundesamt

Die von Radioaktivität betroffenen Gebiete Österreichs (Mai 1986).

Die am stärksten betroffenen Menschen der Katastrophe sind aber die sogenannten „Liquidatoren“: Etwa 50.000 Soldaten der damaligen Sowjetunion, die auf Befehl unmittelbar nach der Katastrophe in Tschernobyl arbeiten mussten.

Geschlafen haben sie in Zelten, bekleidet waren sie mit gewöhnlichen Uniformen. Boris Iwanowitsch Derkatsch war einer dieser Liquidatoren: Er flog in Hubschraubern über die Ruine des Unglücksreaktors, half bei der Errichtung des Schutzmantels, dekontaminierte die Umgebung und unterstützte die Evakuierung der Bevölkerung. „Ich habe in den letzten Jahren schon viele meiner Kameraden begraben“, sagt Derkatsch. Er selbst hat bis heute überlebt – doch die gesundheitlichen Folgen des Einsatzes begleiten ihn schon seit 27 Jahren. Bereits einen Tag nach Ende des Einsatzes schwoll sein Hals an. „Zwei Monate nach dem Einsatz hatte ich eine erste Schilddrüsenoperation. Bis heute spüre ich die Folgen der Verstrahlung. Ich habe ständig Kopfschmerzen, oft Herzrasen, Schmerzen in den Beinen und im Rücken und ich fühle mich sehr schwach.“

Archivbild

Die Liquidatoren erhielten in den ersten Tagen nach dem Unfall keine Informationen über die radioaktive Strahlung. Erst als Boris Derkatschs Bataillon auch den Auftrag erhielt, die Einteilung in Zonen rund ums Kraftwerk vorzunehmen, wurde den Menschen bewusst, wie gefährlich der Einsatz war: „Wir haben die Strahlung gemessen. In manchen Gebieten war sie so hoch, dass man eigentlich nicht länger als fünf Minuten bleiben darf, an anderen Stellen mit geringerem Radioaktivitätsniveau vielleicht zehn Minuten.“ Bleiben musste Boris Derkatsch insgesamt 17 Tage lang.

EPA

Pripyat mit ehemals 50.000 Einwohnern ist heute eine Geisterstadt.

Gesundheitliche Folgen spüren aber auch Menschen, die zum Zeitpunkt des Unfalls weit entfernt vom Unglücksreaktor lebten. Lidiya Utkina war ein Jahr alt, als sie aus ihrer 500 Kilometer von Tschernobyl entfernten Heimatstadt in der Ukraine, damals noch Teil der Sowjetunion, evakuiert wurde. Seit ihrem zehnten Lebensjahr leidet Utkina an Leukämie. „Wir haben damals kaum Unterstützung vom Staat bekommen. Offiziell war die medizinische Versorgung kostenlos - trotzdem sollten wir alle Medikamente selbst kaufen und alle Therapien selbst bezahlen. Bis heute gibt es viele Probleme, denn die Menschen verdienen wenig, aber die Chemotherapie, die viele Kinder benötigen, kostet sehr viel.“ Ihre eigene Therapie wurde über Spenden, zu einem beträchtlichen Teil auch aus Östereich, finanziert.

Boris Derkatsch, der ehemalige Liquidator des AKW Tschernobyl, wird auch bei einer mehrtägigen internationalen Anti-Atomkonferenz in Wien dabei sein. Sie findet von 30. Mai bis 1. Juni in Wien statt, und parallel dazu gibt es in Zwentendorf das Tomorrow Festival: Am Gelände des Atomkraftwerks spielen die Kaiser Chiefs, Frittenbude, die Fantastischen Vier und viele mehr - die Erlöse des Festivals kommen Kindern zugute, die an den Spätfolgen von Tschernobyl leiden.

Lidya Utkina und Boris Derkatsch leisten trotz ihrer Krankheiten Aufklärungsarbeit, z.B. auch an Schulen in Österreich. In ihrer Heimat werde über das Reaktorunglück weniger gesprochen als im übrigen Europa, sagt Utkina: „In ukrainischen Schulen gibt es nur einen Tag, an dem über Tschernobyl gesprochen wird – das ist der 26. April.“ Sie freue sich, dass sie in fremden Ländern auch an anderen Tagen die Gelegenheit habe, über dieses Thema zu sprechen.

APA

Wie oft aber denken wir daran, dass Österreich von einem Dutzend Atomkraftwerken umzingelt ist? Das Wien geographisch näheste AKW etwa liegt nur 40 Kilometer entfernt – eine besonders unsichere Anlage mit vier Reaktoren ohne Containment und von ähnlicher Bauart wie der Unglücksreaktor von Tschernobyl.