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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

25. 4. 2013 - 11:23

Into Bewilderment

Tüchtige, viel zu ernste junge Menschen und absurde Umstände - das Crossing Europe Filmfestival bietet Best of Arthouse Kino.

Sujet des "Crossing Europe"-Filmfestivals: Eine Nahaufnahme einer jungen Frau. Die knappe rechte Hälfte des Gesichts ist abgeschnitten.

Crossing Europe

Crossing Europe Filmfestival Linz,
23. bis 28. April 2013

Am Crossing Europe ergeht es dem Publikum wie dem asiatischen Händler im diesjährigen Festivaltrailer der Künstlerin Ella Raidel: Mitten im üppigen Warenangebot sitzt der Mann und hat nur Augen für die bewegten Bilder am Screen. Die versetzen den Taiwanesen regelrecht woanders hin und heben ihn empor.
Am Crossing Europe landet man an Orten, die man sich kaum als Ziel einer Reise ausgesucht hätte. Doch plötzlich schaut man sich um. Und trifft in den Filmen, die am Festival in Linz im Wettbewerb laufen, auf junge, große Persönlichkeiten.

Weite und endliche Enge im Wettbewerb

Ins schottische Hochland wollen die meisten TouristInnen auch nur für ein Wochenende. Dann fahren sie am Anreiseabend ungeschickt ein Wildtier nieder, und "Shell" und ihr Vater, der Mechaniker und Tankwart, müssen sie abschleppen. Der Wildkadaver nährt die Beiden für Wochen.

Als "Shell" vormittags erstmals in Linz läuft, ist jeder Sitzplatz im Einser Saal des Moviemento im OÖ Kulturquartier besetzt. Wer zu lange die Sonne am Vorplatz genossen hat, drückt nun in der zweiten Reihe den Hinterkopf in die gepolsterte Lehne. Denn in der Einöde, in der "Shell" spielt, wird jede Begegnung mit Menschen zum Ereignis.

Filmstill aus "Shell": Eine kleine Tankstelle in dunkler Nacht

Crossing Europe Filmfestival

Shell (Chloe Pirrie) lebt und arbeitet dort im Nirgendwo in einer Tankstelle. Shell, wie das Mineralölunternehmen, will ein Kunde wissen. Nein, Shell wie die schönen Dinge, die man im Meer findet, antwortet die Siebzehnjährige. Shell ist das einzige weibliche Wesen weit und breit - abgesehen von den Rothirschkühen, deren Fell sich in die Landschaft fügt wie gemalt.

Die erwähnten Filme laufen noch einmal heute bzw. in den kommenden Tagen am Crossing Europe Festival in Linz

Für die Männer der Umgebung wird Shell, die sich mangels anderer Unterhaltung jedes Detail ihrer kargen Erzählungen merkt, zur Projektionsfläche für alles Weibliche. Während sich Shells Gefühle für ihre einzige Bezugsperson durch jahrelange Abwesenheit der Mutter ins Grenzwertige steigern. In dieser Weite an Landschaft bedrängen Beziehungen und Abhängigkeiten.

Bei aller verschrobenen, verstörenden Nähe ist das Debüt des Schotten Scott Graham höchst schlüssig. Spannung baut sich binnen weniger Gesichtszüge der hervorragenden Schauspieler auf. Es ist ein leises, doch spannendes Psychogramm.

Filmstill aus "Shell": Eine Jugendliche wird von ihrem Vater umarmt

Crossing Europe Filmfestival

Essen, Schlafen und vielleicht noch ein Hobby?

Von einer engen Vater-Tochter-Beziehung erzählt auch "Äta Sova Dö / Eat Sleep Die" von Regisseurin Gabriela Pichler, der im viel gelobten Einwanderungsland Schweden angesiedelt ist. Und auch dieser Spielfilm wird allen voran durch eine umwerfende Hauptdarstellerin eine Wucht.

Rasas (Nermina Lukac) Widerwille gegen Arbeitslosigkeit setzt eine Energie frei, die ihr Aufbegehren in jeder Bewegung spiegelt. Die tüchtige junge Frau kann Salatblätter mit der bloßen Hand zu 175g-Portionen wiegen, aber über ein Hobby hat sie noch nie nachgedacht. Sie muss sich und ihren montenegrinischen Papa mit von Arbeit zerschundenen Rücken durchbringen. Doch das interessiert die Beraterin vom Arbeitsamt nicht. Viel mehr stehen Rasa und ihre einstigen KollegInnen kurz auf einem Minigolf-Platz. Wenig begeistert: "Wenn jeder herumsteht und Minigolf spielt, wird Schweden bald knochentief in Schwierigkeiten stecken".

"Eat Sleep Die" rührt und ist zugleich voll Kampfgeist, großer Liebenswürdigkeit und feiner Klugheit. Die 32jährige Regisseurin Gabriela Pichler bricht den Ist-Zustand der politischen Krise Europas in hundert Minuten auf das Wesentliche herunter: Europa verschwendet nicht nur seine Jugend.

Filmstill aus "Eat Sleep Die": Drei junge Frauen mit Hygiene-Haube hängen in ihrer Pause im Freien beim Fabrkseingang

Crossing Europe Filmfestival

Permanent prekär

Zusätzliche Qualität bekommen sehr viele der Vorführungen am Crossing Europe durch die Projektionen in Originalfassungen mit Untertiteln. Erstaunlich, dass man SchottInnen leichter versteht als Londoner WG-Freunde.
In "The Comedian" von Tom Shkolnik wird das Arbeitsprekariat nicht mehr in Frage gestellt, alle Aufmerksamkeit gehört Beziehungen, die enden, bevor sie gelebt werden. Der Titel täuscht, die Gefühlslage drei jungen Londoner Hauptfiguren ist eine Misere. Wenn als einzige eine fremde Zufallsbekanntschaft im Nachtbus den eigenen Beziehungsstatus zur Sprache bringt, sitzt man bald wieder am Esstisch im Elternhaus.

Bester Eskapismus

Nach "The Comedian" ist einem dringend nach Eskapismus. Dazu eignet sich "Animals" von Marcal Fores vorzüglich. Die Natur ist mehr als Kulisse, sie ist der Spielplatz für Vorkommnisse, die erst mal geschehen. Denen man zusieht, ohne moralische Kategorien zu finden. "Animals" ist ein Film, der ins Kino gehört und nur dort gesehen werden will. Äußerst eigenwillig in Ästhetik und Narration, verbinden sich Einbildungen und Realitäten. Bizarre Vor- und Unfälle passieren - nicht einfach so in einem spanischen Gymnasium.

Filmstill aus "Wrong": Ein Mann im Pyjama steht verzweifelt auf Veranda vor seinem Haus.

Crossing Europe Filmfestival

Brüller: "Wrong" von Quentin Dupieux

"Wrong" und die Filme der "Nachtsicht" wandern weiter und werden am 2. und 3. Mai 2013 im Filmcasino in Wien zu sehen sein

Mit Grusel oder fantastischen Lachgeschichten gehen die Tage am Crossing Europe zu Ende. In den Spätvorstellungen der Programmschiene "Nachtsicht" amüsierten sich BesucherInnen noch im Dunkeln der Leinwand kurz vor Filmbeginn mit gegenseitigen "Pssst!"-Mahnungen. Gekudert wurde zum Glück ungeniert bei "Wrong". Zu recht: Der Franzose Quentin Dupieux - auch bekannt als Mr. Oizo - schrieb das Drehbuch, führte Regie und Kamera bei diesem Spielfilm, den Filmkritiker und "Nachtsicht"-Kurator Markus Keuschnig als "Bunueleskes Bullshit-Bingo" bezeichnet und der ein absurdes Vergnügen ist, wie man es selten findet.