Erstellt am: 23. 4. 2013 - 11:34 Uhr
Richie Havens 1941 bis 2013
Wo sonst als in Nachrufen dürfen alte Menschen schamlos von den alten Tagen erzählen. Also: In einer Welt vor Youtube, vor langer langer Zeit, als die einzigen Rock-Biographien, die wir kriegen konnten, bescheuerte Übersetzungen aus dem Bastei Lübbe-Verlag waren, als uns das Radio (mit Ausnahme des Pop-Museum von Wolfgang Kos und den Rückblicken in der Music Box-Reihe „Die Komplette LP“) mit der löchrigst möglichen Version der Popgeschichte versorgte, unternahm ich in den Sommerferien regelmäßige Pilgerfahrten ins Erika-Kino an der Kaiserstraße, Wien 7.
Jenes älteste Kino Wiens (geschlossen 1999, als ich schon in London wohnte) zeigte unter Tags mit bewundernswerter Beharrlichkeit eine sehr schmale Auswahl an Filmen. Dem "Letzten Tango in Paris" verdanke ich meine Sexualerziehung, "Easy Rider" meine Drogenaufklärung, und als Musikunterricht gab es den "Woodstock"-Film.

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Das Beste an dieser Mutter aller Festival-Dokus kam gleich zu Anfang in Form des Auftritts eines Mannes, von dem ich noch nie gehört hatte. Er hatte ein krächzendes, nasales Organ, keine schöne Stimme im konventionellen Sinn, und es sah so aus und hörte sich so an, als fehlte ihm die obere Gebiss-Reihe.
Als prinzipieller Hippie-Verächter (es war eine dogmatische Zeit), der eigentlich nur gekommen war, um The Who zu sehen, stellte ich fest, dass die unermüdliche, mächtige Schlaghand des Richie Havens seiner Gitarre noch furiosere, brutalere Triolengewitter entlockte als die Pete Townshends. Vor allem aber von seiner Greifhand konnte ich meinen Blick nicht lösen. Havens verwendete seinen überdimensionalen, enormen Daumen als Barreefinger. Der Vergleich zwischen dem, was da von der Leinwand weg zu hören war, und dem, was die schmerzhafte Nachahmung der Technik in meinem Schlafzimmer hervorbrachte, wies mir den Weg in die bis dato unbekannte Welt der offenen Gitarrenstimmung (Moll 7 in diesem Fall...).
Gegen Anfang des im Woodstock-Film gezeigten Songs hören wir, wie Havens die Bühnentechniker anweist, das Mikro des zweiten Gitarristen aufzudrehen, während er dazu ein rhythmisches Riff improvisiert. Nach einer Weile beginnt er zu singen: „Freedom, freedom, freedom, freedom.“
Was eigentlich wie ein schreckliches Klischee klingen sollte, würde stattdessen heute noch den schlimmsten Zyniker entwaffnen. Schließlich klang auf einem ansonsten fast ausschließlich von Weißbroten bevölkerten Festival wie Woodstock auch noch unüberhörbar mit, dass Havens damit unmissverständlich jene Freiheit meinte, für die die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung kämpfte, während die weißen College-Kinder friedlich in der Sonne lagen.
Später erst hab ich von den Mythen und wahren Geschichten rund um diesen Auftritt erfahren. Dass Richie Havens diesen auf einem Gospel namens „Motherless Child“ beruhenden, fragmentarischen Song, der ausklingt, als er – erschöpft, mit durchgeschwitztem Leinenhemd – immer noch seine Gitarre peitschend die Bühne verlässt, an Ort und Stelle improvisiert habe, weil ihm das geprobte Material ausgegangen war.
Es heißt immer, Havens habe als Opening Act des Festivals drei Stunden lang spielen müssen, um die Zeit bis zum Auftauchen der verspäteten Bands zu füllen – eine Sage, der der heutige Nachruf der New York Times sehr respektvoll widerspricht (tatsächlich habe Havens zehn Songs statt der vorgesehenen vier gespielt).
Zum Zeitpunkt seines Auftritts in Woodstock war der damals 28-jährige, von einer alles andere als einfachen Jugend gezeichnete Havens in Wahrheit längst kein Unbekannter mehr. Das aus Brooklyn stammende älteste von neun Geschwistern hatte die längste Zeit in Doo Wop Bands und Gospel-Chören gesungen. Während viele Gospel-Sänger seiner Generation versuchten, sich bei Labels wie Atlantic oder Motown ihr Geld im aufblühenden Crossover-Pop- bzw. Soul-Markt zu verdienen, zog Havens ins Greenwich Village, schlug sich dort erst als Beatnik-Poet, dann als Porträt-Maler durch, begann sich für die örtlichen Folk-Clubs zu interessieren und schließlich selbst akustische Gitarre zu spielen (es heißt, er habe offene Stimmungen verwendet, weil seine Finger zu groß für konventionelle Akkorde waren).
Diese Sozialisation und die Wahl seines Instruments sind wohl schuld daran, dass man Havens immer als Folk-Sänger zu bezeichnen pflegt, aber sein Gesangsstil ist zutiefst soulig, und er zeigte immer eine große Schwäche für Popsongs.
Nach ersten, unerfreulichen Erfahrungen mit der Plattenindustrie nahm sich Bob Dylans Manager Albert Grossman seiner Karriere an, und 1967 erschien auf Havens' LP „Mixed Bag“ sein erster Hit „Handsome Johnny“, ein Protestsong über den typischen, braven amerikanischen Soldaten, der sich für jeden Krieg einspannen lässt - bis hin zu Vietnam und der Niederschlagung der Anti-Rassentrennungs-Märsche in Birmingham, Alabama, wo die Polizei ihre Hunde ohne Beißkorb auf die Menge hetzte.
Vor ein paar Jahren kaufte ich mir eine Originalausgabe von „Alarm Clock“, dem Album aus dem Jahr 1971 mit Richie Havens' größtem Hit, seiner fabelhaften Cover-Version des Beatles-Songs „Here Comes The Sun“. Die Plattenfirma hatte der LP eine Gratis-Single mit Live-Versionen von „Handsome Johnny“ und „Freedom“ beigelegt. Auf letzterer extemporiert Havens weiter über sein in Woodstock improvisiertes Thema hinweg: „You gotta get up and change the world“, deklamiert er wieder und wieder, lauter und lauter, und das Johlen des Publikums lässt ihn wissen, dass die Botschaft angekommen ist.
Aus heutiger Sicht lässt sich nicht ausblenden, dass Havens Jahrzehnte später bei der Inauguration Bill Clintons spielen sollte, und was für eine bittere Desillusionierung ihm da noch bevorstand. Genauere Anweisungen zur Weltveränderung waren seinen Platten leider nicht beigelegt gewesen.
Richie Havens starb gestern 72-jährig in Jersey City an den Folgen eines Herzinfarkts.

Robert Rotifer