Erstellt am: 22. 4. 2013 - 15:17 Uhr
EU plant Vorratsdatenspeicherung 2.0
Am vergangenen Donnerstag hat die EU-Kommission beschlossen, eine neue Expertengruppe zum Thema Vorratsdatenspeicherung einzuberufen. Das sei deshalb notwendig, weil sich die Umsetzung der Richtlinie als "uneinheitlich" erwiesen habe, heißt es in dem von EU-Kommissarin Cecilia Malmström gezeichneten Beschlusspapier, das ORF.at vorliegt.
Das war die einzige, wenig überraschende Erkenntnis aus der jahrelangen Evaluierung der umstrittenen Richtlinie durch die Data Retention Evaluation Group, deren Mandat Ende des Jahres 2012 ausgelaufen ist.
Die neue Data Retention Experts Group soll der EU-Kommission als Beratungsgremium für die nächsten fünf Jahre zur Verfügung stehen. Zentrale Aufgabe ist es, "einen Leitfaden zur Implementation der Richtlinie zur Speicherung der elektronischen Kommunikationsdaten für die Strafverfolgung von Schwerverbrechen" zu erstellen.
EPA/OLIVIER HOSLET
Das klingt nur sehr ähnlich wie das Mandat der abgegangenen Experten, tatsächlich soll die Richtlinie ausgeweitet werden.
"Legitimen Anforderungen der Behörden"
Der erste Punkt im Aufgabenkatalog für die neue Expertengruppe betrifft den "Austausch von Informationen" mit der Kommission "über technologische Veränderungen im Angebot öffentlich verfügbarer Kommunikationsnetze und -services betreffend die legitimen Anforderungen der zuständigen Behörden in den Mitgliedsstaaten. Diese zur Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung relevanten Informationen sollen sicherstellen, dass die Richtlinie ihre angestrebten Ziele auch weiterhin erreicht." (Art. 2 Tasks, Absatz a)
Auch einleitend im Text, nämlich in Präambel 4, werden die "neuen technologischen Entwicklungen" und daraus resultierenden "neuen Anforderungen der zuständigen Behörden" betont. Auch die Evaluierung habe schließlich ergeben, dass die Richtlinie "überprüft und in bestimmten Punkten verbessert werden" sollte. Was also bedeuten diese, auch für Brüsseler Verhältnisse reichlich verklausulierten Formulierungen?
Die Übersetzung
Die Kommission bestellt eine Expertengruppe, um sich darüber zu informieren, welche neue Anforderungen die Ѕtrafverfolger an die Überwachung für sie relevanter Kommunikationskanäle haben. Mit den "technologischen Änderungen" sind neue Internetservices gemeint, die nun vermehrt zum Austausch von Informationen genutzt werden: webbasierte Dienste, für die sich der Begriff "Soziale Netzwerke"eingebürgert hat. Die anlasslose Speicherung der Kommunikationsdaten von Telefoniediensten und E-Mail soll nun auf Facebook & Co ausgeweitet werden.
Da die EU-Kommission den Text ihres Beschlusses bis dato nicht publiziert hat, wird er vorderhand hier zur Verfügung gestellt (PDF-Dokument).
Seit der Verabschiedung der Vorratsdatenrichtlinie 2006 hat sich das Nutzerverhalten im Netz signifikant verändert. Während der Phase des Richtlinienentwurfs von Vorratsdaten 1.0 im Jahr 2003 passierte so gut wie der gesamte, elektronische Informationsaustausch noch via E-Mail, mittlerweile hat sich die private Kommunikation weitgehend auf Soziale Netzwerke verlagert.
Die Aussage des Texts
Die Strafverfolger müssen angesichts dieser "neuen technologischen Entwicklung" eben Zugriff auf die neuen Kommunikationskanäle erhalten, um ihrem gesetzlichen Auftrag der Strafverfolgung auch weiterhin nachkommen zu können. Das ist die Aussage im Text.
Wenn diese Daten nun in die Vorratsdatenspeicherung einbezogen werden, muss der Internetverkehr sämtlicher Teilnehmer in toto gespeichert werden, das ist technisch anders gar nicht möglich. Diese Idee war bereits 2003 auf dem Tapet gewesen, wurde aber damals relativ schnell wieder verworfen. Ѕogar die an den Entwürfen beteiligten Ministerialjuristen waren durchwegs der Meinung, dass diese Maßnahme die Grundrechtecharta der Europäischen Union verletzen würde und auch vor den nationalen Verfassungsgerichten nicht halten würde.
Verfassungsklagen
Deshalb wurde die "Vorratsspeicherung" des Internetverkehrs auf die jeweilige temporäre IP-Adresse und den E-Mail-Verkehr beschränkt. Alle WWW-basierten Dienste wurden dezidiert ausgenommen, weil das einer eindeutig verfassungswidrigen inhaltlichen Totalüberwachung aller Bürger gleichgekommen wäre.
Die Verfassungsklagen aber bekam die EU-Kommission auch so. Während der letzten Jahre hatten fünf europäische Verfassungsgerichte nacheinander die jeweilige, nationale Umsetzung der Vorratsdatenrichtlinie als verfassungswidrig erkannt. In Deutschland wurde das entsprechende Vorratsdatengesetz gut zwei Jahre nach seiner Verabschiedung als verfassungswidrig aufgehoben, einen neuen Anlauf zur Implementation gab es bis dato nicht.
Klagen aus Österreich beim EuGH
Ein halbes Dutzend österreichischer Klagen, denen sich 11.000 Bürger durch Rechtsvollmachten angeschlossen hatten, wurden vom heimischen Verfassungsgericht 2012 an den EuGH mit dem Ersuchen um grundsätzliche Klärung weitergereicht.
Neben der "Klage der 11.000" hat auch der Wiener Anwalt Gerald Otto Klage vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof wegen Verstoßes gegen mehrere Grundrechte seines Mandanten durch die Datenspeicherung eingereicht. Auch diese Klage ist jetzt vor dem EuGH.
Seitdem läuft dort ein Verfahren, das die Konformität der Vorratsdatenspeicherung mit der Grundrechtecharta der EU prüfen soll. Während also vor dem obersten EU-Gericht gerade geklärt wird, ob Vorratsdaten 1.0 gegen die Grund- und Menschenrechte verstoßen, ist die EU-Kommission dabei, die Ausweitung der Speicherpflicht auf die gesamte Internetkommunikation zu beraten.
Wer dahinter steckt
Treibende Kraft dahinter ist nicht in erster Linie die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström, es sind wie immer die Begehrlichkeiten nationaler Behörden mit jener Großbritanniens an der Spitze. Hinter den Kulissen spielt sich derzeit ein Vorgang ab, der frappierend exakt nach dem gleichen Muster läuft, das der Entstehung von Vorratsdaten 1.0 zugrunde lag.
EPA
Die britische "Communications Data Bill" sieht nicht nur eine Verkehrsdatenspeicherung der gesamten Internetaktivitäten vor, sie wird auch flächendeckend auf die Briefpost ausgeweitet.
Im Jahr 1999 war die mit einer soliden Mehrheit ausgestattete sozialdemokratische Regierung Tony Blair mit einem Vorratsdatengesetz am Widerstand der britischen Parlamentarier gescheitert. In Folge tat man sich mit Frankreich, wo die Vorratsdatenspeicherung gerade beschlossen worden war, Irland und Schweden zusammen und fand auch im damaligen deutschen Innenminister Otto Schily vehemente Unterstützung.
2006 und heute
So kam es, dass 2006 per Richtlinie eine Maßnahme vorgeschrieben wurde, die bis dahin in allen Mitgliedsstaaten dezidiert verboten war: die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten aus Netzen zur elektronischen Kommunikation.
Im European Telecom Standards Institute werden derweil vollendete Tatsachen geschaffen. Seit 2010 ist eine Norm zur Überwachung Sozialer Netzwerke nach dem Muster der Überwachung von Telefonienetzen in Arbeit. Sie entspricht nicht nur dem Muster der britischen Communication Data Bill, an der Norm wirken Mitarbeiter der Einheit NTAC des britischen Militärgeheimdienstes GCHQ mit.
In Großbritannien findet die von David Cameron geführte Regierung seit einem Jahr keine parlamentarische Mehrheit für ein neues Gesetzesvorhaben. Die Communication Data Bіll zur anlasslosen Überwachung des kompletten Internetverkehrs wird vom liberalen Koalitionspartner nicht unterstützt, das Gesetz steckt ebenso fest wie vor 14 Jahren Vorratsdaten 1.0 unter Tony Blair.
Also geht man wieder denselben Weg über die EU-Kommission, um die vom eigenen Parlament mehrheitlich abgelehnte Maßnahme in Form einer EU-Richtlinie durchzusetzen. Was die dafür nun eingerichtete "Data Retention Experts"-Group betrifft, so soll deren Expertise in der "operativen Umsetzung" der Vorratsdatenspeicherung bestehen.
Öffentlich, aber auch streng geheim
APA / Christian Charisius
Der Status ihrer Arbeit ist laut dem vorliegenden Kommissionsbeschluss gleichzeitig öffentlich und streng geheim. So soll die Öffentlichkeit zwar über eine Website vom Tun und Treiben dieser Experten unterrichtet werden, doch Ausnahmen davon könne es natürlich geben, heißt es in Artikel 5, Absatz 7, "wenn der Publikation eines Dokuments öffentliche oder private Interessen" entgegenstünden.
Ebenso müssen Mitglieder dieser Gruppe, wie auch dort geladene Experten, der "Verpflichtung professioneller Geheimhaltung" nachkommen, widrigenfalls könne die Kommission "alle geeigneten Maßnahmen ergreifen". Die vorgesehene Mitwirkung des EU-Datenschutzbeauftragten an der Expertengruppe ist also unter diesen Prämissen zu sehen.
Anekdoten statt Information
In Österreich war Anfang Februar ein Versuch gescheitert, das Militärbefugnisgesetz um den Zugriff auf Vorratsdaten zu erweitern. Eine entsprechende Passage, die diesen direkten Zugriff ermöglicht hätte, war in einer Novelle zur Verwaltungsgerichtsbarkeit versteckt.
Diesen Experten war es in mehr als zwei Jahren nicht gelungen, auch nur eine einzige brauchbare Statistik über die in den einzelnen EU-Staaten völlig unterschiedlichen Implementationspraktiken vorzulegen. Ebenso gibt es keinerlei Erfolgsnachweise für diese Maßnahme, in Deutschland war die Aufklärungsrate bei webbasierten Straftaten in den beiden Jahren der Vorratsdatenspeicherung im Vergleich zu den Vorjahren sogar gesunken, statt signifikant anzusteigen.
Eine ganze Zahl von EU-Mitgliedsstaaten hatte überhaupt keine Daten zur Verfügung gestellt, ansonsten gab es statt Informationen Anekdoten, nämlich "Beispielfälle" zur Nützlichkeit der Vorratsdatenspeicherung, ohne Namen, Zeitpunkt und Ort und oft sogar ohne die Behörde genauer zu nennen, der dieser Zugriff auf den "Datenvorrat" solchermaßen zugutegekommen war.