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Lukas Tagwerker

Beobachtungen beim Knüpfen des Teppichs, unter den ihr eure Ungereimtheiten kehrt.

18. 4. 2013 - 19:27

Seine keine Familie

Paul-Julien Robert hat einen aufrüttelnden Film über sein Aufwachsen in der Mühl-Kommune gemacht.

Als der Wiener Theologe, Psychologe und spätere Satanismusforscher Josef Dvorak Anfang der 70er Jahre einen LSD-Trip zuviel geschmissen hatte und keine "Gruppenanalysen" mehr machen konnte, empfahl er jungen Leuten, in die Wohngemeinschaft von Otto Mühl zu gehen. Der öffentlich geächtete Aktionskünstler Mühl hatte sich nach seiner Scheidung junge Obdachlose in seine 120-Quadratmeter-Wohnung in die Praterstraße 32 eingeladen um nicht alleine zu sein. Dort führte er "Behandlungen" mit einer selbsterfundenen Methode durch, eine wilde Mischung aus Wilhelm Reichs psychoanalytischen Ansätzen und u.a. der Urschreitherapie: die sogenannte "Aktionsanalyse".

Aussteigewillige aus dem postnazistischen Österreich machten Otto Mühl (geboren 1925), der schon vom Wehrmacht-Leutnant zum berüchtigten Fäkalkünstler mutiert war, zu ihrem Guru. 1973, im Jahr des Ölschocks gründeten sie eine Kommune am Friedrichshof im Burgenland.

"Als ich im Mai 1973 von einem Aufenthalt in den USA zurückkehrte, hatte sich meine Freundin von mir getrennt, sie verließ die Gruppe, um weiter zu studieren. Ich war sehr von ihrem Entschluss betroffen, spürte aber die emotionelle Möglichkeit für die freie Sexualität in der Gruppe. Ich sagte damals, dass ich keine Zweierbeziehung mehr eingehen werde." (Otto Mühl, zitiert nach Andreas Schlothauer)

Die aktionsanalytische Bewegung glaubte in der Zweierbeziehung das Grundübel aller Probleme der bürgerlichen Gesellschaft erkannt zu haben. Weltkriege, Völkermord, die Atombombe, alles Resultate ungelebter, unterdrückter Sexualität. Die "Fixierung auf Vater und Mutter" schädige den Menschen und mache einen "Kleinfamilienwichtel" aus ihm. Die Konsequenz war die Ächtung jeder allzu intimen Paar-Konstellation, Kinder wurden von ihren Müttern getrennt und die Loyalität zur "Gruppe", die Unterordnung unter die Alpha-Wesen um Otto Mühl, galt als oberstes Prinzip.

 Paul-Julien Robert als Kind in der Kommune am Friedrichshof

Paul-Julien Robert

Paul-Julien Robert als Kleinkind mit einer "Ersatzmutter".

Der dokumentarische Kinofilm "Meine keine Familie" erzählt die Suche nach den eigenen Wurzeln aus der Perspektive des Filmemachers Paul-Julien Robert, der 1979 in der Kommune am Friedrichshof geboren wurde. Der Versuch seine Elterngeneration zu verstehen, deren Motive wie auch deren Unfähigkeit, die totalitäre Entwicklung in der Kommune zu erkennen, ist selbst ein Stück Heilung. Das Vertrauen, das Paul bei aller skeptischen Neugierde seinen Protagonisten entgegenbringt, überwindet eine generationenübergreifende Sprachlosigkeit. Wurzeln, die uns mit dem 20. Jahrhundert verbinden, und nicht nur Wurzeln von Kommunenkindern, werden spürbar.

Selbstdarstellung

Paul-Julien Robert

Als ein Ethnologe die frühe Kommune besucht und einen Film über ein westkongolesisches Heilungsritual zeigt, sind die KommunardInnen spontan begeistert: aus der Aktionsanalyse wird die "Selbstdarstellung".

Das Archiv der Kommune hat für Paul-Julien Roberts Film erstmals Filmmaterial freigegeben. Die Kommune ließ so gut wie das ganze tägliche Leben für Dokumentations- und Propagandazwecke mitfilmen. So reisen wir mit Pauls Mutter in der Zeit herum, mit seinen drei Vätern, dem juristischen, dem sozialen und dem biologischen Vater. Und mit Pauls Altersgenossen, die ihre Kindheit unter massivem psychischem und körperlichem Missbrauch individuell unterschiedlich erlebt und überlebt haben.

Selbstdarstellung

Paul-Julien Robert

In den 80er Jahren war aus der analytischen Selbstdarstellung ein Entertainment-Ritual geworden, durch das Guru Mühl jedem seinen Platz in der Hackordnung zuwies.

"Meine keine Familie" im Wiener Gartenbaukino:

  • Freitag, 19. April, 19:15
  • Samstag, 20. April, 21:15, anschließend Gespräch mit dem Regisseur und den Protagonisten
  • Dienstag, 23. April, 19:15, anschließend Podiumsdiskussion zum Thema "Kunst-Kollateralschäden, Mensch als Material"

Wenn Pauls Kindheitsfreunde erzählen, wie jede individuelle Willensäußerung in der Kommune als Widerstand gegen die Gruppe interpretiert und unterdrückt wurde und welche psychische Störung Gruppendruck und Zwangsbehandlungen hinterlassen, ringt man um Fassung. "Freie Sexualität", "Gemeinschaftseigentum", das ganze "soziale Experiment" mit seinem "Kunstbegriff" sind katastrophal gescheitert. Aus der Utopie wurde Dystopie, die positiven Nebenwirkungen der engen Gemeinschaft kommen im Film nur am Rande vor.

Doch "Meine keine Familie" ist keine wütende Anklage, eher eine melancholische Detektivgeschichte auf der Suche nach den Ursprüngen und Folgen einer Tragödie. Bemerkenswert: die Spät-68er hätten symbolisch ihre Naziväter ermordet, in Otto Mühl einen Übervater gefunden, der ihre Pubertät verlängerte und nach Anklageerhebung gegen Otto Mühl wegen sexuellem Missbrauch Minderjähriger seien die meisten Kinder "vaterlos" geworden. Bei Auflösung der Kommune 1991 einigte man sich darauf für alle Kinder einen Vaterschaftstest durchzuführen.

 Paul-Julien Robert sichtet Videos von der Kommune

Paul-Julien Robert

Der Filmemacher Paul-Julien Robert sichtet Videomaterial im Archiv der Kommune Friedrichshof.

Als Paul mit seiner Mutter noch einmal den Friedrichshof besucht, der mittlerweile in eine Genossenschaftsiedlung mit Aktionskunstmuseum verwandelt wurde, entschuldigen sich zwei Frauen bei einer Vernissage öffentlich für das Unrecht, das vielen Kindern in der Kommune angetan wurde. Pauls Mutter hat einen Filmriss, sie weiß nicht mehr, warum sie wieder hierher gekommen ist und reist abrupt ab.

Die Gewalt, die Traumatisierungen, denen unsere Eltern, unsere Großeltern unterlagen, denen sie ausweichen wollten, transportieren sich doch Generation für Generation fort. Dagegen hilft kein Ritualzauber, eher das Erforschen der eigenen Wurzeln.

 Paul-Julien Robert mit der Familie seiner Mutter

Paul-Julien Robert

Paul-Julien Robert mit der Familie seiner Mutter.

Petra Erdmann hat Filmemacher Paul-Julien Robert interviewt:

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