Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der ganz normale Wahnsinn wohnt nebenan "

Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

16. 4. 2013 - 11:26

Der ganz normale Wahnsinn wohnt nebenan

In Inger-Maria Mahlkes Roman haben alle BewohnerInnen eines Mietshauses - jeder und jede für sich - eine "Rechnung offen".

In einem Wohnhaus in Berlin Neukölln spielt es sich ab. Die HausbewohnerInnen hier, die sind jenseits von hip, aber Möchte-Gern ist ihr Leitmotiv. Für jede und jeden auf eigene Weise und vielfach, ohne dass sie sich das aussuchen.

Dem Hausbesitzer geht es ähnlich. Wie sonst kommt es, dass ausgerechnet er, der Psychologe Claas Jansen, seiner Frau erklären muss, was es mit diesen sieben identischen Kakadus, "alle mit einem Zweig im Schnabel", und all den anderen sorgsam aufgereihten Tieren auf sich hat?

"Claas deutete auf einen kleinen Hund, der mit einem Frosch spielte, 'ein Einzelstück', er blickte sie an, als erwarte er, dass sie lachen würde, lächeln zumindest. 'Was ist das?', der Polizist hatte sich an beide gewandt. 'Keine Ahnung', hatte Theresa geantwortet und sich umgedreht. 'Porzellan', hörte sie Claas sagen.

Die Autorin Inger-Maria Mahlke muss eine buchstäblich haarscharfe Beobachterin sein. Deren Blick an einzelnen Strähnen und kleinen Details hängenbleibt, wenn sie U-Bahn fährt. Denn ihr neuer Roman "Rechnung offen" besticht durch Gesten, Blicke, Handgriffe. Und sehr viel Witz bei allen tragischen Absurditäten. Wie bei Claas, dem Psychologen und notorischen Sammler. "Unbarmherzig" nannten deutsche Kritiker Mahlkes Schreibstil - dabei ist sie bloß eine kühle und kühne Erzählerin.

Autorin Inger-Maria Mahlke mit Zigarette in der Hand

Sibylle Baier

Absurde Alltäglichkeiten, aber hallo!

Ungewaschenes Geschirr mit eingetrockneten Essensresten kommt ebenso ins Bild wie Wege von Schweißperlen auf der eigenen Haut schon mal nachverfolgt werden dürfen. Höchstpersönliche Momente, die niemanden etwas angehen, und angesichts derer man anderen die Türe vor der Nase zuknallt, damit sie verborgen bleiben, nimmt Mahlke in ihre Geschichten auf.

Und mehr noch: Die Autorin und Juristin Inger-Maria Mahlke belässt es nicht bei Persönlichkeitsstudien. Sie formt aus ihnen ihre Figuren und die Handlungsstränge. Und zeichnet wie nebenbei ein großes Sittenbild der mitteleuropäischen Gesellschaft im Hier und Jetzt.

Dabei gibt Mahlke die Beweggründe der Charaktere nicht billig preis. Mit Tragik und Komik nähert man sich ihnen als LeserIn und ist schnell auch ein bisschen abhängig von ihnen. Als hätte man eine neue TV-Serie entdeckt und käme mit den einzelnen Figuren noch nicht klar, bewegt man sich anfangs in den Wohnungen dieser Fremden. Und wird immer wieder irritiert.

Ins Leben der Anderen

Das Buchcover zu "Rechnung offen" von Inger-Maria Mahlke zeigt die Namensschilder einer Klingel an Haustüre

Bloomsbury Verlag GmbH Berlin

"Rechnung offen" von Inger-Maria Mahlke ist im Frühjahr 2013 im Berlin Verlag erschienen.

Im Erdgeschoss wohnen Drogendealer. Wie viele, weiß niemand. Nicht mal die blonde Studentin Ebba von oben, die ihre Ausbildung insgeheim eingestellt hat und um ihre Rationen regelmäßig klopft. Bis einer der Flüchtlinge kaum noch atmen kann und nur Ebba die Rettung rufen will. Ansonsten scheinen Ebbas Tage der Zeit enthoben, die älteste Nachbarin Elsa hingegen ist stets mit Besuchen und der Hoffnung auf Besuch beschäftigt. Die Vergangenheit holt Elsa immer wieder ein, denn sie liebt ihre verstorbene Freundin und Lebensgefährtin noch immer. In der Erinnerung erzählt sie die lesbische Liebe vergangener Jahrzehnte. Elsa steckt jungen Männern, die nicht ihre Enkel sind, Geldscheine zu - die hätten "die Wichtel" gebracht. Frau Elsa Streml und ihr Alzheimer werden ein unbeachteter Fixpunkt, wenn sich die Geschichten der HausbewohnerInnen kreuzen.

Tempi und Tonalitäten sind fein gewählt. Am Ende weiß man: Nichts wird Mahlke zufällig passiert sein in dieser Erzählung.

Eine Begegnung gefällig? Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur im letzten Sommer trat Inger-Maria Mahlke mit Seiten aus "Rechnung offen" um den Bachmann-Preis an. Mahlke hat in Klagenfurt jene Seiten gelesen, auf denen die alleinerziehende junge Frau ihren Dienst als Domina in einem Sexclub antritt. Es sind kleine Schock-Wellen, die Mahlke mit ihren genauen Schilderungen in LeserInnen zu erzeugen vermag.

Nahe kommen

Im Laufe des Romans werden die Personen zunehmend vertrauter und ihre Geschichten gewinnen große Spannung. Man kommt ihnen sehr nahe binnen des erzählten Zeitraums an ausgewählten Tagen zwischen August und Dezember. Wie viele Dinge mehr wird der Psychologe Jansen noch im Internet ersteigern? Die Pakete türmen sich längst in der Praxis. Schließlich muss der Hausbesitzer eine Wohnung im eigenen Mietshaus beziehen, weil er zu oft Enter gedrückt und den Zahlen am Laptopdisplay beim Countdown zugesehen hat.

Weitere Buchempfehlungen
fm4.orf.at/buch

"Rechnung offen" ist ein Buch für ein Wochenende mit Zeit, im Bett zu lesen oder es mit hinaus zu nehmen, auf eine Wiese und in einen Park. Es ist definitiv kein Roman für Busfahrten und Kurzstrecken. Das herrliche Erzähltalent Mahlkes entfaltet sich nur am Stück. Zu nah dran ist man an den Menschen und den Dingen, um zwischendrin einen Abstand zuzulassen.