Erstellt am: 13. 4. 2013 - 11:35 Uhr
Die Mathematik der Liebe
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Die Archivarin und Dokumentarin Anna Roth ist aufgeregt. Gleich wird sie der todkranken Adele Gödel gegenübertreten, um sie davon zu überzeugen, den wertvollen Nachlass ihres Mannes Kurt Gödel endlich freizugeben. Doch die alte, scharfzüngige Adele weigert sich, die Arbeiten des berühmten österreichischen Mathematikers herauszurücken.
Mit Beharrlichkeit und hoher Frustrationstoleranz gelingt es Anna, bei ihren Besuchen eine Beziehung zu jener Frau aufzubauen, die einen der bedeutendsten und auch undurchschaubarsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts ihr Leben lang unterstützt und geliebt hat. Mit Adeles Erzählungen von ihrem außergewöhnlichen und schwierigen Leben verändert sich auch Annas Sicht auf die Welt und die Liebe.
Zwischen Formeln und Paranoia
Adeles Erzählungen beginnen im Wien der späten 1920 Jahre, als sie bei Spaziergängen im achten Bezirk zufällig den Mathematiker und Logiker Kurt Gödel kennenlernt. Aus nächtlichen Begegnungen wird schnell eine Liebesbeziehung, die von Kurts Eltern jedoch nicht toleriert wird. Adele und Kurt treffen sich fortan im Geheimen. Doch nicht nur die Ablehnung der Gödelfamilie macht Adele zu schaffen, ihr geliebter Kurt leidet an starken Depressionen, die ihn schließlich zu einem Sanatoriumsaufenthalt zwingen.
Lessing Strasse 6 Verlag
Die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Adele ist immer aufopfernd für ihren Wissenschaftler Kurt da und drängt ihn nach dem "Anschluss" Österreichs auch dazu, Wien zu verlassen. Kurt Gödels gute Verbindungen zur Universität in Princeton ermöglicht den beiden ihre abenteuerliche Flucht aus Österreich. Im Exil lernen Kurt und Adele die Familie Oppenheimer sowie Albert Einstein kennen. Im privaten Kreise entwickelt sich zwar eine Freundschaft zwischen den Wissenschaftern, doch Kurt Gödel leidet zunehmend an seinen paranoischen Schüben, verschlimmert durch die beklemmenden Züge der McCarthy Ära.
Adele leidet sehr unter dem Exil und unter Kurts zunehmender Lieblosigkeit. Alleine mit Hausarbeit und weit weg von ihrer Familie wird sie immer dicker und leidet zunehmende an Depressionen. Doch die Liebe zu ihrem schwierigen Genie hält Adele am Leben, bis zum bitteren Ende.
Zwischen Logik und Gefühlen
Vier Jahre hat die Französin Yannick Grannec, eigentlich Grafikdesignerin, an ihrem Debütroman gearbeitet. Eine lange Zeit der Recherche ging dem Schreiben voraus: Grannec hat sich durch Biographien, Mathematik-Sachbücher und Briefwechsel gewühlt. Das besondere an "Die Göttin der kleinen Siege" ist, dass die Geschichte des großen Logikers Kurt Gödel aus der Sicht seiner Frau beschrieben wird, von der eigentlich nur wenig bekannt ist und die bisher als ungebildet und nicht besonders liebenswürdig beschrieben wurde.
Yannick Grannec schafft es mit ihrem Roman, ein komplexes und großartiges Portrait einer Frau neu zu zeichnen, deren Liebe zu einem sehr problematischen Genie an die Kippe zur Selbstaufgabe führt. Auch wenn zwischendurch amüsante und spannende Ausflüge in das Reich von Mathematik und Physik entführen, steht doch im Vordergrund, wie wir Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Eigenliebe und kompletter Aufopferung leben und führt uns eindrucksvoll vor Augen, wie die Liebe zum Leben und anderen Menschen alle Schwierigkeiten überwinden kann.
© Bruno Charoy
"Die Göttin der kleinen Siege" arbeitet aber auch die Geschichte der letzten fünfzig Jahre auf. Von der Zeit des Wiener Kreises über den Nationalsozialismus bis zur Zeit der Kommunistenhatz in den USA der 1950 Jahre. Die historischen Figuren aus der Wissenschaft werden mit launigen und gut recherchierten Dialogen zum Leben erweckt und durch die Sicht eines Menschen gefiltert, der mehr seinem Herzen folgt, als der Ratio.
Nicht zuletzt ist die sich langsam entwickelnde Beziehung zwischen Adele Gödel und der schüchternen Dokumentarin Anna Roth eine sehr berührende weitere Ebene des Buchs, die den Konnex zwischen früheren Rollenbildern und jenen der 1980 Jahre in den USA schafft. Außerdem zeigt dieser spannende und aufrüttelnde Roman, dass unser Gegenüber uns oft der beste Lehrmeister sein kann. Yannick Grannec ist mit "Die Göttin der kleinen Siege" ein zutiefst humanistisches und emotional gehaltvolles Debüt geglückt.