Erstellt am: 12. 4. 2013 - 11:23 Uhr
Rivonia
Rivonia - für alle unter uns, die noch nie im südafrikanischen Johannesburg waren - ist ein Stadtteil von Johannesburg. Dort ist Cherilyn MacNeil aufgewachsen. Weiße Familie, samt (schwarzer) Haushälterin. Das war so. Und ist noch immer so im MacNeilschen Haushalt, so wie in vielen anderen (weißen) Haushalten dort. "Nancy ist weiterhin bei uns", sagt Cheri MacNeil in Interviews zum neuen Album von Dear Reader: "Es sollte als nicht selbstverständlich betrachtet werden, dass sie die Hausarbeit macht für uns. In ihrer Familie ist sie aber die einzige, die Arbeit hat. Wenn meine Eltern sie entlassen würden, wäre das schlimm für sie."

City Slang
Im Song "26.04.1994" wird Nancy erwähnt, aber auch Sarah und Doris, Sylvia und Iris. Sie alle sind schwarze Haushälterinnen weißer südafrikanischer Familien, geliebte Ersatzmütter für kleine weiße Kids. Manche von ihnen sind längst erwachsen, oder gar nach Berlin emigriert, wie Cheri MacNeil. Die Freude von Nancy war damals groß, als sie zum ersten Mal wählen ging, vor 19 Jahren. Am 26. April 1994 begannen die ersten freien Parlamentswahlen für alle Bürger in Südafrika. Die Eltern von Cheri MacNeil hatten erst Angst vor Vergeltung durch die neue (schwarze) Regierung. Es geht viel um "Identiät" auf "Rivonia", sagt Cheri MacNeil im FM4-Interview, und ihre Identität ist dabei eine, die aus vielen Stücken besteht. Cheri MacNeil, die innerhalb kurzer Zeit in Berlin Deutsch gelernt hat, wechselt im Interview nun ins Englische. "Fragmented" heißt das Wort nach dem sie sucht: bruchstückhaft, zersplittert, zerstückelt, aufgeteilt.
Das Stück "26.04.1994" kommt beschwingt daher, optimistisch, positiv. Insgesamt hat die Album-Thematik aber natürlich eine gewisse Schwere an sich; etwa, wenn Cheri MacNeil in die Rolle eines Kindes schlüpft, dessen (schwarzer) Vater unter oft lebensgefährlichen Bedingungen im Bergwerk schuftet, um Gold für den weißen Mann zu schürfen. "Down under mining, fetching the white man's gold", singt sie auf der ersten Single vom Album, in "Down Under Mining", einem toll arrangierten Stück, das einen direkt zu einem dieser südafrikanischen Stollen zu transportieren scheint.
Sie haben sie weggebracht
Der nächste Song, "Took Them Away", ist ein gänsehauterzeugendes Stück, in dem Cheri MacNeil wieder in die Rolle eines Kindes schlüpft, jenes Buben, der Nelson Mandela einst verraten hatte.
"One dog and a dozen strong men, and they took them away. On that Tursday according to plan. I stood and watched by the side of the road. How could I know? How could I know?"

CitySlang
"Rivonia" von Dear Reader ist bei City Slang erschienen.
Das fragt sich der Protagonist des Stücks. "How was I to understand? How to make it right?", fragt er sich weiter. Schuld. Die Bürde der Schuld in einem Song, der oberflächlich betrachtet und nichts vom Texthintergrund wissend, vielleicht einfach als "entzückend" bezeichnet werden könnte. Cheri MacNeil stellt der Schwere der Thematik nämlich immer wieder eine große musikalische Leichtigkeit entgegen, dabei ist aber jedes Detail, das so leichtfüßig daherzukommen scheint, genau überlegt.
Control Freak
"Ich war bei dieser Platte ein control freak, habe erstmals selbst alles in die Hand genommen und produziert", lacht die freundliche, stets leicht distanzierte junge Südafrikanerin, die vor wenigen Jahren erstmals die internationale Musikbühne betrat, auch mit einem FM4-Radiosession-Konzert in Wien. Damals war gerade das Album "Replace Why With Funny" erschienen, und Dear Reader waren als Trio unterwegs. Neben Cherilyn MacNeil war ein gewisser Darryl Torr der Mastermind der Band. Inzwischen gehört der Name Dear Reader ja Cheri MacNeil alleine. Sie und Darryl hatten sich freundschaftlich darauf geeinigt. Sie wollte nach Berlin gehen, wo das Plattenlabel City Slang Dear Reader unter seine Fittiche genommen hatte, und er wollte in Südafrika bleiben, auch weil Darryl dort erfolgreich ein Tonstudio betreibt.

City Slang
Schon das letzte Album von Cheri McNeil aka Dear Reader hatte einen Südafrika-Bezug. "Idealistic Animals" war ebenfalls ein Konzeptalbum. Elefant, Giraffe, Affe, und wie sie alle heißen, die Tiere der Savanne, schlüpften in eine Rolle, neben Fuchs, Bär und diesem anderen Tier namens Mensch.
Zurück aber zu "Rivonia" und dem Song "Took Them Away". Wir schreiben das Jahr 1963. In Südafrika herrscht die Rassentrennung, Apartheid genannt. Eine gewalttätige Vorherrschaft der weißen, europäischstämmigen Bevölkerungsgruppe über alle anderen Einwohner des Landes. Der Bub, George Mellis, der beim Spielen auf der Farm eines befreundeten Kindes südafrikanische Freiheitskämpfer entdeckt, im Schuppen versteckt, erzählt seinem Vater, dass jemand im Schuppen auf der Lilliesleaf-Farm in Rivonia ist, nicht wissend wer das ist:
"Nicholas invited me to visit at the farm. We were playing in the yard, I saw them in the barn. White and black together sat, I just stood and stared, how was I to know what it all meant... Something wasn't right, as I told my father later that night."

Mandela
Die Vorstellung, dass das Kind Mandela entdeckt und verrät, hat etwas Dramatisches. "Took Them Away" ist gewissermaßen auch eine Art Mini-Film. Man hört den Song und es bauen sich Bilder im Kopf auf. Dass Nelson Mandela bereits früher, an der Grenze zu Angola, gefangen genommen wurde und es sich "nur" um andere führende Mitglieder des ANC - kurz für African National Congress, jene anti-Apartheid-Bewegung, die auf jener Farm ihr geheimes Hauptquartier hatte, tut der Intensität von "Took Them Away" aber natürlich keinen Abbruch. Mandela, der sich auf der Farm als Gärtner getarnt aufgehalten hatte, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor Ort. Er war bereits seit dem Vorjahr im Gefängnis, wurde dann aber mit den Festgenommenen von der Lilliesleaf-Farm bei den Rivonia-Trials, jenen Prozessen, die zwischen 1963 und 1964 stattfanden, zusammen mit den zehn au der Farm gefassten ANC-Mitgliedern, verurteilt.
Weitere Anspieltipps:
"Good Hope": Piano, Streicher, Chöre. "They came from the sea, she brought them to me, only time would show what sort of gift they would be", singt Cherilyn MacNeil.
"Victory": Eine anti-Battle-Hymne, in der Cheri MacNeil fragt, "Are you a dreamer?".
"Already Are": Ein Duett. Aber wer ist der Mann, der hier mit Cherilyn MacNeil singt? Es ist, tatata, Konstantin Gropper von Get Well Soon!
"From Now On": Cheri McNeil vermisst "the rolling fields, the cattle at my hills, I miss the spring in green, the maize my sisters grew, I miss the rain on the roof as I lay with you... ". Tolle Drums.
Stimme und Schlagzeug stehen zum Teil stark im Vordergrund auf diesem neuen Album von Dear Reader. Das Schlagzeug spielt kein Geringerer als Earl Harvin, der Drummer der Tindersticks. Der US-Amerikaner, der in Berlin lebt, wurde Cheri MacNeil von City Slang empfohlen, veröffentlicht die britische Band Tindersticks doch ebenfalls ihre Musik bei City Slang in Berlin.
Die großartig minimalistische und doch so effektvolle Drum-Arbeit von Earl Harvin hört man etwa auch gut bei "Teller Of Truths", einem Song in dem es um den Zulu-König Shaka geht: "Oh Shaka, my brother, can you hear me now? Will you see the light?", heißt es im Text, bevor es um Mord und Totschlag geht. Ein großer, komplexer Song. Eine kleine Tour-de-Force, auf die sich einzulassen sich lohnt. Überhaupt ist Cheri MacNeil aka Dear Reader mit "Rivonia" nun endgültig zu einer bedeutenden Künstlerin geworden, auch wenn sie ihre Songs wohl weiterhin in kleinen Indierock-Clubs singen wird.