Erstellt am: 17. 4. 2013 - 21:00 Uhr
Opa ist voll blöd! Mischt sich überall ein!
Julien Green schrieb 72 Jahre daran, Kollege Carnal führt eines zum Jahr der Pflicht und ein ehemaliger deutscher Ministerpräsident wird gerade politisch neu bewertet, weil seines entdeckt wurde: das Tagebuch ist Selbstvergewisserungswerkzeug, Beweismittel und literarische Form.
Wer selber in der hormonell turbulenten Zeit des Heranwachsens Tagebuch geschrieben hat und später als vermeintlich gefestigte Persönlichkeit wieder darin liest, macht eine unheimliche Erfahrung. Eine Gefühlsmischung aus Freude, Grusel und Scham begleitet die Erkenntnis, dass man sich in dem Maße fremd geworden ist, in dem man sich weiterentwickelt hat.
Geht es beim Tagebuch darum regelmäßig jeweils 24 Stunden in beliebig viele Sätze zu verwandeln, so geht es beim poetry slam darum Selbstverfasstes in jeweils 5 Minuten einem Publikum vorzutragen. Beim diary slam werden die beiden Formen gekreuzt: das öffentliche Um-die-Wette-Lesen privater Aufzeichnungen. Unlängst hat im brut in Wien der erste derartige diary slam stattgefunden. Es war peinlich aber auch lustig.
Anna Konrath
Die euphorische Rezeption des diary slam rührt vielleicht daher, dass eine zerrissene Generation zwischen Mauerfall und Ausbruch der totalen Krise aufwächst ohne erwachsen zu werden. Da Subjektivität, Individualität und Erinnerungen zu wichtigen Ressourcen geworden sind, klammert sich diese Generation an alte Tagebücher wie an die bemalten Reste der Berliner Mauer. Das Festhalten intimer Erinnerungen besteht beim diary slam in der öffentlichen Preisgabe derselben. Individuelle Retro-Momente werden kollektiviert.
Stefan Lotter
Stefan Lotter schreibt 17jährig "ich bin nicht jeder Mensch" in sein Tagebuch und er hat Recht. Dieser Satz ist das Komplementärgesetz zum Ugol´schen Gesetz "Du bist nicht der Einzige", das Christian Heller als Post-Privacy-Taktik anführt. Jenseits von Konformismus und Solipsismus tut sich ein ansteckender Identifikationsraum auf, der therapeutische Wirkung hat.
Michael Altmüller
Die diary slams haben ihre Vorform zum einen in den cringe nights, in Schamgrenzen verschiebenden Peinlichkeitsfesten, die die amerikanische Bloggerin Sarah Brown erst in New York, später in London veranstaltete. Zum anderen in der Veranstaltungsreihe Mortified, die vom Kellertheaterabend zur Fernsehshow mutierte und bei der z.B. Alanis Morissette ein "peinliches" frühes Gedicht vortrug. In der Selbstbeschämung stecken die AutorInnen das Publikum mit dem eigenen Schamgefühl an, ein karthartisches Lachen antwortet auf diesen Kontrollverlust.
Bernd Eischeid
"Ich liebe diese Situation, man will viel von sich preisgeben und viel erfahren, man will vertraut werden." schreibt Bernd Eischeid in seinem Tagebuch. Ob eine solche einstige Vertrautheit "verletzt" wird, wenn Schilderungen davon später dritten Personen, einem unbekannten Publikum mitgeteilt werden? Beim diary slam werden Namen von Abwesenden genannt, öfter fallen Sätze wie "wenn der/die/mein Vater/meine Freundin wüsste, dass ich euch das jetzt vorlese, würd´er/sie mich umbringen..." Die Anwesenden verschwören sich praktisch gegen die Abwesenden.
Anna Konrath
Der Soziologe Wolfgang Hien beklagt eine Zerstörung der Persönlichkeit im Neoliberalismus, Zwangsflexibilisierung und Ökonomisierung der Gefühle führten zu einem Verschmelzen des Individuums mit seiner gesellschaftlichen Rolle. Das öffentliche Vorlesen aus dem eigenen alten Tagebuch scheint dem Imperativ zur kreativen Selbstverwertung zu gehorchen.
Slam P.anoptikum: Diary Slam wird von Diana Köhle monatlich organisiert. Im Literaturhaus Wien veranstaltet sie auch den viel besuchten poetry Slam B.
Aber, da das Private politisch ist, stecken in diesen intim-transparenten Bekenntnissen, in den heiteren und eigensinnigen Pubertätsprotokollen auch Möglichkeiten zur Reflektion gesellschaftlicher Normen und Zwänge. Wo endet das Unterworfen-Sein unter soziale Strukturen und wo beginnt echte Individualität, die ein mündiges Kollektiv erzeugt?
Den ersten heimischen diary slam hat übrigens Larissa Gruber gewonnen:
Larissa Gruber