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Chrissi WilkensAthen

Journalistin in Griechenland

8. 4. 2013 - 18:42

Ertrunken im Meer vor Griechenland

Über den gefährlichen und oft tödlichen Seeweg versuchen zahlreiche Flüchtlinge europäisches Festland zu erreichen. Frontex und die griechischen Behörden scheinen Schiffsunglücke nicht verhindern zu können.

"Ich will nur den Körper meines Sohnes finden. Ich will nicht, dass die Fische im Meer ihn auffressen", sagt Ali. Der Syrer sitzt auf dem Bett seines Hotelzimmers auf der Insel Lesbos und starrt verzweifelt aus dem Fenster. Seine Finger verkrampfen sich, während er vom letzten Gespräch mit seinem 14-jährigen Sohn erzählt. "Er rief mich an und sagte, dass sie von der Küste aufgebrochen seien und in einer halben, spätestens einer Stunde in Lesbos ankämen."

Es war in der Nacht vom 6. auf den 7. März dieses Jahres, Ali wartete an diesem Abend vergeblich auf eine Nachricht seines Sohns. Schließlich fuhr er selbst nach Lesbos und auf die Nachbarinsel Chios, um dort nach ihm zu suchen. Obwohl Ali die Polizei und die Küstenwache sofort über die Vermissten auf See benachrichtigte, wurde erst Tage später mit der Suche begonnen.

Flüchtling sucht nach dem Schiffsunglück nach überlebenden Angehörigen im Meer

Stelios Kraounakis

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Ali ist Unternehmer und wohnt seit Jahren in Griechenland. Sein Sohn hat ihn mehrmals besucht, die Visa hat er ihm in der griechischen Botschaft in Damaskus besorgt, erzählt Ali. Wegen des Kriegs floh sein Sohn vor ein paar Monaten mit seiner Großmutter und seiner Tante nach Ägypten. Ali versuchte erfolglos, bei der dortigen Botschaft ein Visum für ihn zu bekommen. Als einziger Weg nach Griechenland blieb die Flucht mit dem Schlauchboot. Gemeinsam mit dem Jugendlichen reiste eine Familie mit drei kleinen Kindern. Sie hatte bereits einige Jahre in Griechenland gelebt und war vor einiger Zeit wegen der Wirtschaftskrise nach Syrien zurückgekehrt. Mit der Zuspitzung des Kriegs musste die Familie gezwungenermaßen wieder Richtung Griechenland fliehen - ohne gültige Papiere, obwohl sogar zwei der Kinder dort geboren wurden. Wegen der strengen Gesetze in Griechenland in punkto Staatsbürgerschaft bleibt vielen Migrantern oft nur der illegale Weg ins Land: die Überfahrt auf hoher See endete tödlich.

Unter den vermutlich neun Toten des Schlauchboot-Unfalls von Mitte März befand sich auch ein 17-jähriges Mädchen aus Syrien, deren Mann mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland lebt. Da es für sie als minderjährige Ehefrau keine Möglichkeit zur Familienzusammenführung gab, flüchtete sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder aus Syrien, sie ertranken auf dem gefährlichen Weg.

Mensch steht auf einer Klippe

Stelios Kraounakis

Die deutsche Menschenrechtsorganisation Pro Asyl beobachtet die Situation syrischer Flüchtlinge seit längerem. Visaanträge von Syrern mit Angehörigen in Deutschland werden bislang meist rigoros abgelehnt, so die Menschenrechtsorganisation. Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich kündigte Ende März die Aufnahme von etwa 5.000 "besonders schutzwürdigen" Flüchtlingen aus Syrien an. Die ersten sollen im Juni nach Deutschland kommen. Allerdings sollen nur Personen ausgewählt werden, die sich derzeit in Flüchtlingslagern in Jordanien aufhalten. Pro Asyl forderte erst kürzlich, Familienangehörige von in Deutschland lebenden Syrern auch außerhalb eines Kontingents aufzunehmen, sowie in Griechenland und Bulgarien gestrandeten Syrern die Weiterreise nach Deutschland zu erlauben, wenn die Betroffenen Anknüpfungspunkte in Deutschland haben.

Es sind jedoch nicht nur syrische Flüchtlinge, die ihr Leben verlieren beim Versuch, ihre Familien in Deutschland oder in anderen Ländern Europas zu erreichen. Im Dezember verlor ein aus Hamburg stammender Afghane seinen Vater bei einem anderen Schiffsunglück vor Lesbos. Der Vater hatte juristisch gesehen keine Möglichkeit, legal zu seiner Familie in Deutschland zu ziehen. So blieb nur der unsichere Fluchtweg über die türkisch-griechische Grenze. Auf der Suche nach seinem verschollenen Vater sei der junge Afghane von den griechischen Behörden wiederholt bei seiner Reise ins Landesinnere behindert worden, da sie die Echtheit seiner deutschen Aufenthaltspapiere anzweifelten, erzählen Mitglieder des Netzwerks "Welcome to Europe", die ihn auf Lesbos getroffen haben. Bei einem weiteren Schiffsunglück vor Lesbos im Dezember 2009 starb eine afghanische Frau mit ihren beiden Kindern. Sie war auf dem Weg zu ihrem Ehemann nach Deutschland.

Beerdigung der Toten nach dem Schiffsunglück vor Lesbos

Stelios Kraounakis

Griechenland bekommt derweil von der EU immer mehr Geld für die Verwaltung der Flüchtlings- und Migrationsströme, mehr als 370 Millionen Euro waren es in den vergangenen sechs Jahren. Für 2014 bis 2020 soll die Summe auf 500 Millionen Euro aufgestockt werden. NGOs kritisieren vehement, dass diese Gelder nunmehr alle vom Ministerium für Bürgerschutz verwaltet werden sollen, das von der Polizei kontrolliert wird. Parallel zur Flüchtlingsabwehr soll eine menschenwürdige Migrations-und Flüchtlingspolitik etabliert werden. Ein Plan, der schon seit Jahren nicht mehr als eine Floskel ist.

Bislang sieht man in Griechenland in den Bereichen Asylpolitik und Versorgung und Integration von Flüchtlingen und anderen gefährdeten Gruppen kaum Fortschritte. Stattdessen entstehen überall Gefängnisse und Grenzzäune. Die Flucht in die Festung Europa wird gefährlicher und endet immer öfter tödlich. Seit vergangenem Herbst wurden allein in der Ägäis offiziell drei Schiffsunglücke und mehr als 90 tote Flüchtlinge registriert. Flüchtlinge werfen den griechischen Behörden illegale Abwehrpraktiken auf hoher See vor, die die Überfahrt noch riskanter und lebensbedrohlicher machen.

Trauernder bei einer Beerdigung auf Lesbos

Stelios Kraounakis

Mohamad ist vor drei Tagen mit anderen Flüchtlingen auf Lesbos angekommen. Es war sein fünfter Versuch, Europa zu erreichen, sagt er. Beim vierten Versuch ist er von den griechischen Behörden illegal abgewehrt worden, er wurde Zeuge eines sogenannten "push backs". "Die Beamten der griechischen Küstenwache haben uns erwischt und uns den Motor weggenommen. Sie haben uns an Bord ihres Schiffes geholt und unser Schlauchboot hinten festgemacht. Kurze Zeit später haben sie uns wieder ins Schlauchboot gesetzt und uns ein Paddel gegeben." Die Flüchtlinge hätten dann verstanden, dass sie wieder in türkischem Gewässer sind. "Nur mit dem Paddel und den bloßen Händen haben wir es dann geschafft, die türkische Küste zu erreichen ", erzählt Mohamad. Unter den dreißig Passagieren des Schlauchboots seien auch kleine Kinder und verletzte afghanische Flüchtlinge gewesen.

Ähnliche Erzählungen hört man immer öfter von neuangekommenen Flüchtlingen auf Lesbos. Manchmal berichten sie sogar von Warnschüssen der Beamten, oder gar, dass diese ihre Gewehre drohend auf die Flüchtlinge gerichtet hätten. Die griechische Küstenwache sowie das Pressebüro der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in Warschau dementieren dies. Das Retten von Menschenleben habe immer absolute Priorität auf dem Meer, so die Pressesprecherin. Im vorigen Jahr wurde Frontex über zwei Fälle von push backs vor Evros informiert. Den ersten meldeten die Flüchtlinge selbst, den zweiten Gastoffiziere von Frontex. Die Agentur hakte daraufhin bei den griechischen Behörden nach. Nach internen Ermittlungen konnten diese Behauptungen nicht als wahrheitsgemäß bestätigt werden, so die Antwort der griechischen Behörden.

Das Neer vor Lesbos

Stelios Kraounakis

Hinter dem Steuer des Schiffs der griechischen Küstenwache, das gerade eine weitere Patrouille in der Meerenge zwischen Lesbos und der türkischen Küste beginnt, sitzt ein kräftiger Mann in blauer Uniform. Der Kapitän zeigt stolz auf die Wärmebildkamera, die sich rechts vor seinem Sitz befindet. "Das ist unsere stärkste Waffe. Dadurch kann man sehr schnell illegale Einwanderer lokalisieren und im Falle eines Schiffsunglücks im Meer Überlebende finden", sagt er. Seinen Namen will er nicht nennen. Am häufigsten träfen er und seine Kollegen auf hoher See zurzeit Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan an, die mit kleinen überfüllten Schlauchbooten die griechische Küste erreichen wollen, erzählt er. "Falls sie sich auf der Grenzlinie befinden, sagen wir: 'Alter your course, you are proceeding Greek territory water.' Man kann sie auch warnen, dass man auf sie schießen wird. Wir sagen halt das, was wir sagen müssen." Die Beamten dürften jedoch ihre Waffen nicht einsetzen, wenn sie es mit Unbewaffneten zu tun haben, betont der Kapitän. Die Afghanen wüssten dies bereits und befolgten die Anweisungen nicht. "Die Syrer, die das noch nicht wissen, kehren zurück, wenn wir sie erschrecken", sagt er.

Ein paar Kilometer weg vom Hafen, im Bergdorf Agiasos, in einer Unterkunft für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, ist Mohamad Bahtzi gerade mit dem Fußballspielen fertig. Der 16-jährige Afghane ist einer der beiden Überlebenden aus einem Schiffsunglück vor der Küste Lesbos im vorigen Dezember. In einem Regal über seinem Bett liegen als Dekoration zwei kleine Schiffe, ein paar Plastikblumen und der Koran. Mohamad zwingt sich zum Lächeln und beschreibt das Unglück gelassen: "Wir waren auf dem Boot. Plötzlich ist Wasser eingedrungen und das Boot war vollgelaufen. Ich hatte eine Rettungsweste und zwei Taschen in den Händen. Ich sah die anderen unter Wasser verschwinden."

Beerdigung von Flüchtlingen auf Lesbos

Stelios Kraounakis

Mohamad lag bereits zwölf Stunden im Wasser, als ihn ein Frontex-Schiff fand. Später wurden die Leichen seiner Mitreisenden an die Strände der Insel gespült. Einwohner der Insel und Menschenrechtsaktivsten kritisieren, dass die griechischen Behörden die Rettungsaktion nicht gleich nach dem Auffinden von Mohamad gestartet habe. Das zuständige Ministerium dementiert, verweigert jedoch genaue Angaben zur Rettungsaktion.

Trotz hochmoderner Überwachungstechnik, die von der EU finanziert wird, scheinen Frontex und die griechischen Behörden nicht in der Lage zu sein, Schiffsunglücke zu verhindern oder Suchaktionen rechtzeitig durchzuführen.

Mohamad Bahtzi schaut nachdenklich eine Landkarte an, die an der Wand hängt. Er fühlt sich in Griechenland nicht sicher und will deswegen weiter nach Nordeuropa, wieder über den Seeweg, diesmal von Griechenland nach Italien. Und dies, obwohl er riesige Angst vor dem Meer hat. "Ich werde dieses Ereignis nie vergessen. Es wird immer in meinen Kopf bleiben. Wenn du aber ohne Papiere nach Griechenland und Europa kommen willst, gibt es nur diesen Weg."