Erstellt am: 8. 4. 2013 - 14:48 Uhr
Eine Patchwork-Familie platzt aus allen Nähten
Viele Söhne fürchten sich davor so zu werden, wie ihre Väter. In "Bonita Avenue" ist es umgekehrt. Ein Vater hat Angst davor so zu werden, wie sein ungeliebter Sohn.
Siem Sigerius, Rektor einer renommierten Universität, die er selbst aufgebaut hat und weltweit anerkannter Mathematiker ist der Mittelpunkt der angesehen Familie Sigerius. Siem ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnlicher Mann.
Der geniale Wissenschaftler ist ein richtiges Vieh mit Kahlkopf und Blumenkohlohren, die er wie Abzeichen trägt. Seine Ohrmuscheln sind gefüllt mit Blut und Eiter, das sich über die Jahre in den harten Kämpfen auf den rauen Judomatten gesammelt hat. In seiner Jugend war der populäre Forscher ein gefürchteter Judoka. Die Logik der Zahlen und die Disziplin des Judo bestimmen seinen Lebensstil.
Vergangenheitsbewältigung mit Seziermesser und Axt
Neben seiner erfolgreichen sportlichen und akademischen Karriere hat sich der Professor eine nette, bürgerliche Familie gebastelt. Die Sigerius Familie ist eine moderne Patchwork-Familie, in der alles wunderbar läuft. Eine happy family, wie es scheint.
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Doch gleich nach den ersten Seiten nimmt Autor Peter Buwalda sein Seziermesser und zerteilt die Familie Sigerius auf den nächsten rund 630 Seiten in ihre Einzelteile. An Stellen, an denen das Seziermesser nicht durchkommt, rückt Buwalda mit der Axt an.
Einer dieser Äxte ist die Nachricht von der frühzeitigen Freilassung des Hammermörders Wilbert Sigerius. Siems Sohn aus erster Ehe scheint das perfekte Gegenteil des mathematischen Genies zu sein - nämlich unberechenbar und brutal. Er symbolisiert alles, was Siem hinter sich lassen musste, um mit seiner zweiten Ehefrau Tieneke eine glückliche Familie und eine erfolgreiche Karriere aufzubauen.
Grüße aus dem Unterbewusstsein
Die Freilassung von Wilbert ist ein Schock für Siem, der nun von seiner Vergangenheit und seinem bis dahin gut verdrängten Unterbewusstsein aufgeholt wird. Kurz vor der Ernennung zum niederländischen Wissenschaftsminister verliert Siem seine Selbstbeherrschung. Und in diesem Moment des Kontrollverlusts wird ihm klar, dass Wilbert nur einer von vielen schwarzen Schafen in seiner Familie ist.
Bald stellt sich heraus, dass die vorbildhafte Stieftochter Joni unter dem Namen "Linda" mit ihrem Fotografenfreund Aaron eine Amateur-Pornoseite betreibt. Mit den Nacktbildern von Joni verdienen die beiden still und heimlich Millionen. Tausende User sehen sich täglich die Bilder von der posierenden und masturbierenden Joni an. Einer von den Usern ist der pornosüchtige Sigerius, wie er in einem grausamen Moment der Erkenntnis feststellt.
Weitere Literaturempfehlungen
Hinter der Perücke und den Kontaktlinsen von Linda aus dem amerikanischen Midwest versteckt sich seine Stieftochter Joni. Die Fotos sind nicht in einem heruntergekommenen Landhaus in Indiana aufgenommen worden, sondern auf dem Dachboden von Aaron Bever.
Die Idylle, die keine war
Hinter der Fassade des großen Vaters hat sich ein übel riechender Sumpf aus Lügen, Paranoia, Drogen, Pornos und verdrängten Erinnerungen gebildet. Seite für Seite legt Autor Peter Buwalda diesen Sumpf trocken und bringt das verborgene Wesen dieser bizarren Familie hervor.
Siem Sigerius, der Mathematikprofessor, der an der Uni die Wahrscheinlichkeit der unwahrscheinlichsten Ereignisse ausrechnet, spürt am eigenen Leib die Unberechenbarkeit des Lebens.
Der Titel "Bonita Avenue" ist nach der Straße benannt, in der die Patchwork-Familie Sigerius vor langer Zeit glücklich gelebt hat. In den zahlreichen Rückblenden wird jedoch klar, dass sich der Gestank der Fäulnis verbreitet hatte. Die Idylle, nach der sich die Familienmitglieder sehnen, hatte es nie gegeben.
Mit "Bonita Avenue" ist dem niederländischen Musikjournalisten Peter Buwalda ein großer Familienroman gelungen, der aus wechselnden Erzählperspektiven und mit einer detailverliebten Sprache den Niedergang einer modernen Patchwork-Familie erzählt.