Erstellt am: 8. 4. 2013 - 11:07 Uhr
Hey wir sind jetzt alt
Sie haben ihr jüngstes Werk "Wie wir leben wollen" mit einem Vierspurgerät aus den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgenommen. Jetzt sind Tocotronic auf Tour, für's Protokoll ist es das Zwanzig-Jahr-Jubliäum des Bandbestehens, doch live gibt man sich nicht mit Malen nach Zahlen ab.
Was gestern Abend im Grazer Orpheum auffällt: War es bislang stets der Charme, den ich an den Tocos live schätzte, so war es diesmal der Humor. Justin Bieber mag von seinen Fans bei jedem Konzert eine Stofftierkollektion auf die Bühne geworfen bekommen - Jan Müller wirft ein entiges Plüschtier ins Publikum. Die "Plüschophilie", die auf dem neuen Album proklamierte Liebe zum Flausch, wird handgreiflich. "Wir spielen einen Discosong, der 2000 die Nummer Eins in Rimini und auch in Slowenien war", kündigt Dirk von Lowtzow an und "Alles wird in Flammen stehen" folgt. Das ist ja überhaupt eines der schönsten Liebeslieder, "wie so oft in meinem Leben ließ ich mich von einem Bild bewegen. Meinetwegen kann alles hier in Flammen stehen". Dazu läuft auf der Leinwand hinter der Band folgender Schriftzug:

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Haha! Ja, Bilder in Köpfe zaubern können Tocotronic. Nach wie vor. Ob am Grund des Swimmingpools oder drüben, auf diesem Hügel. Wir waren da schon mal, und Tocotronic standen 1994 zum ersten Mal in Graz im Orpheum auf der Bühne. Als Vorband von Blumfeld. Und der Körper setzt sich in Bewegung bei "Freiburg", das suche ich mir längst nicht mehr aus. Das Hüpfen ist Intuition. Die Strophen der Songs kennt man in- und auswendig - sie sind weit vertrauter als manche Titel. Als Tocotronic anfingen, gab es noch kein fließendes Internet in Privathaushalten.
Radio FM4
Das Schöne und die große Kunst an Tocotronic ist das Talent, (intellektuellen) Diskurs der Gegenwart umzuarbeiten, für sich zu überprüfen und in dieser Abstraktion schließlich einen neuen Interpretationsraum zu öffnen - in den Köpfen der ZuhörerInnen. Nach Belieben kann dieser Raum befüllt werden, wie die Interviews zum aktuellen Album "Wie wir leben wollen" wieder mal belegen. "Es ist ein häufiges Missverständnis, meistens von Journalisten, dass wir mit unseren Texten Abhandlungen schreiben wollen", erklärte indes Jan Müller dem Neon Magazin.
Heißt aber nicht, dass sie nicht Abhandlungen lesen. So wird etwa kurz dem Maler Martin Kippenberger in einer Ansage gedacht, "Neid und Gier, das ist mein Bier" zitiert, und mit "Die Revolte ist in mir" gekontert. Kunst und Sinne, immer doch gern gesehen bei Tocotronic.

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"Mehr Sein als Schein", hätte Dirk von Lowtzows Vater für wesentlich erachtet, erzählte der Sänger vor einigen Jahren in einem FM4 Doppelzimmer Spezial. Er hingegen fände es umgekehrt auch okay, sagte Lowtzow sinngemäß. Eine klare Absage an das Modewörtchen Authentizität. Unverkrampft und sehr erfreut über das eigene Tun, hier und da auf der Bühne, erlebt man Tocotronic - wie eh und je will ich fast schon schreiben. Nasenflügel und Ohren flattern durch den Sound im Grazer Orpheum an einigen Kulminationspunkten, dafür kann die Band aber nicht verantwortlich gemacht werden.

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Beim ersten Anhören von "Pfad der Dämmerung" wollte ich, dass sich jemand traut und Herrn von Lowtzow darauf aufmerksam macht, dass Dadaismus knapp einhundert Jahre später vergebens ist. Beim Video war dann der erste Eindruck, dass "Wir wir leben wollen" das Buffy-Album von Tocotronic werden könnte. Tocotronic sind bekennende Fans der "Buffy the Vampire Slayer"-Serie und haben für ihr Video eine kleine Huldigung mit blonder, bissiger Hauptdarstellerin einfach in einer deutschen High School umgesetzt.
Aber nein, weitere Vampire kommen nicht vor. Live erschließen sich nun die Stücke des Jubiläumalbums ungleich stärker als auf Tonträger. Plötzlich machen Zeilen Sinn, die zuvor bloß gereimt schienen.
Ein weiches Manifest: Philipp L'Heritier über "Wie wir leben wollen"
Das Hit-Potpourri zusammen mit einigen neuen Stücken offenbart die gesellschaftspolitische Seite von Tocotronic. Das neue, live gespielte Liedgut handelt etwa von "weiblicher Hysterie in einem männlichen Körper" und beinhaltet einen "Protestsong gegen den Tod".

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Das musste mal einer sagen
Hey, wir sind jetzt alt. Und hey, das tut gut, dass Dirk von Lowtzow diese Feststellung beschwingt zu einer Melodie singt. Musste mal einer machen. Zuhause wird dann die Anti-Aging-Creme ins Gesicht geklatscht. Zuvor aber noch drei Zugaben - plus noch eine. Von Lowtzow streckt seine linke geballte Faust in die Luft. Auch der Comic-Bär, den er in das Gästebuch des Grazer Veranstalters zeichnen wird, ballt aufrichtig die Pfote.
Tocotronic: Morgen, 9. April 2013, im Wiener Gasometer und am 10. April im Linzer Posthof.
Den süßen Synthesizer-Schlagzeug-Sound des schwedisch-deutschen Duos It's A Musical hat man bereits vergessen, obwohl man die gerade zwei Stunden zuvor, als Vorband, gesehen hat. Zumindest das Gute-Nacht-Lied sollte jedoch von ihnen sein: Take off your t-shirt and turn off all electronic equipment you've got.