Erstellt am: 3. 4. 2013 - 19:03 Uhr
Weichste Zäune
Oft geht das Erproben neuer Rezepte mit dem Verlust der Genießbarkeit einher. Nicht zuletzt in der Kunst: Durch den Willen zum unbedingten Experiment und den Wunsch nach Argheit, prinzipiell zwei schöne und wichtige Dinge, bleibt nicht selten das Vergnügen auf der Strecke. Wer wissen will, wohin unsere Welt der Musik noch ausgelotet werden kann, gleichzeitig aber auch fühlen möchte, wie tausend Glücksmomente den Körper schocken, möge "Amygdala" hören.
Weitere Albumrezensionen und Musikkritiken
Dass DJ Koze in allen möglichen Schubladen zuhause ist, daran hat man sich schon gewöhnt. Wie freigeistig und in alle Richtungen offen seine neue Platte - sein erstes Solo-Album seit gut acht Jahren - jetzt aber daherkommt, ist dann doch eine Überraschung: "Amygdala" ist eine fast 80-minütige, an allen Farben und Geschmäckern reiche Fieber-Phantasie, ein süß duftendes psychedelisches Wandgemälde. Vielleicht konnte man gar nicht anders, als vom Hamburger Alleskönner Koze ein "Meisterwerk" zu erhoffen, ja zu erwarten, eine solch detailreiche, opulente, sauber ausgeklügelte und die Formen nicht unbedingt sprengende, aber zärtlich auseinandernehmende Großtat muss jedoch in einer jeden Künstlerbiografie als singuläres Kunststück dastehen.
Diese in über mehrere Jahre verteilten Arbeitsphasen des Sammelns, Sichtens und Zusammenstückelns entstandene Platte namens "Amygdala" tut nicht weniger, als eine mögliche Neudefinition dessen anzubieten, was wir "Pop" nennen. Ähnlich zwei vergleichbar gelagerten Jahrhundertalben, Caribous "Swim" und Panda Bears "Person Pitch", sollen Menschen in Wunder vor dieser Platte stehen, sie soll ihnen Blaupause sein und rätselhaftes Vorbild.

DJ Koze
"Amygdala" ist das Kulminieren, Zusammenschmelzen und Auf-den-Punkt-Bringen des bisherigen weit verzweigten Schaffens des DJ Koze: Schon vor fast zwanzig Jahren hat er mit seiner Combo Fischmob das alte Schlachtschiff Deutsch-Rap mit Humor und Experimentierwillen betankt, sich nebenbei als Plattendreher immer mehr dem Techno und House angenähert und so in späterer Folge auch mehrmals in der SPEX den Titel "DJ des Jahres" angetragen bekommen. Für die Kölner Instanz KOMPAKT hat er Bretter für den Dancefloor gezimmert, denen bei aller Durchschlagskraft und bei allem stoischen Marsch-Rhythmus nie der Witz fehlte, mit seiner Boygroup International Pony hat er Funk, Disco und Pop auf nie gehörte Weise zusammengebracht.
Nicht genug: Unter dem Namen Adolf Noise hat er Ambient, Hörspielhaftes und Field Recordings aneinandergeschnitten und nicht zuletzt die zwei Sozialkommentar-Evergreens "Deine Reime sind Schweine" und "Zuviel Zeit" ersonnen. In jüngerer Vergangenheit ist DJ Koze weniger durch eigene Produktionen, als vielmehr durch ein paar wenige Remixe, vor allem aber als Mitbegründer des Labels Pampa Records aufgefallen, das, schlank strukturiert, mit einer Besatzung von kaum mehr als einer Handvoll Produzentinnen und Produzenten wie Ada, Die Vögel, Isolée, Robag Wruhme und natürlich Koze selbst einem fröhlichen Raumgleiter auf Abwegen gleich in geringer Distanz um den Planeten House kreist.
Auf "Amygdala" fügt sich alles zu neuer Musik. Auf den ersten Blick scheint es, als habe sich DJ Koze mit diesem Album von seinem Kerngebiet der letzten Jahre, dem Techno, verabschiedet, da hier vorformatierte Peaktime-Waffen für den Dancefloor nur schwer zu finden sind. Tatsächlich aber weht bei aller offener Struktur und bei aller Freude am Pop der Geist der elektronischen Tanzmusik nicht nur überdeutlich als Grundrauschen durch "Amygdala", sondern manifestiert sich konkret - dann doch - in einer gerade laufenden Bassdrum, die dem Großteil der Stücke das Fundament gibt. Der Beat hält all die wild durch die Atmosphäre flirrenden Soundpartikel von "Amygdala" zusammen und formt die übermütig durch die Gegend schießenden Ideen und Klangexplosionen zu einer zwar abenteuerlich schillernden, aber dennoch homogenen, weichen Seifenblase der Liebe.

DJ Koze
"Amygdala" ist geschmeidige Musik, aus der in leisen, aber allgegenwärtigen Fußnoten auch immer noch die sanfte Seite von HipHop spricht. Hauptsächlich an Software und aus selbst eingespielten, manipulierten, zerdehnten und zerschnipselten Sounds aus dem Aufnahmegerät hat DJ Koze Beats, Streicher und Bläser, Basslines aus Knetmasse und kleine Glöckchenklänge gebaut und so eine bunte, gut gelaunte Welt aufgeschichtet, die sich vor allem durch das gute Wort und das noch bessere Gefühl "Soul" auszeichnet. "Amygdala" ist geprägt durch den Einsatz von Stimmen, die Koze einigen gleichgesinnten Formenwandlern abluchsen hat können: Menschen wie Ada, Caribou, Apparat, Dirk von Lowtzow, Matthew Dear oder Mike Milosh, den die Welt seit Kurzem als Softboy aus dem kalifornischen Duo Rhye kennt, haben ihren Gesang gespendet.
Wobei es sich hier nur selten um echte Zusammenarbeit handelt - vielmehr hat Koze die ihm zur Verfügung gestellten Soundspuren als weiteres Arbeitsmaterial in seinen Vergnügungspark eingepasst. So entstehen zum einen Stücke, die mitunter fast schon so etwas wie richtige "Lieder" sind, wie beispielsweise die bezaubernde Coverversion der Kings-of-Convenience-Nummer "Homesick" mit Ada oder der Gothic-R’n’B "My Plans" mit Dear.
Andererseits gilt es komisch aus dem Ruder laufende Tracks wie den Opener "Track ID Anyone?" zu erleben, in dem der unverkennbare Gesang von Caribou - den andere Musiker sicher ganz unbescheiden prunkvoller verbraten hätten - überhaupt erst in der zweiten Hälfte des Stückes zum Einsatz kommt - und auch das nur für kaum zwei von fünf Minuten Spieldauer. Oder - ein Highlight unter vielen - die Nummer "Das Wort" (das übrigens, so erfahren wir im Text, als hätte man es nicht geahnt, "Love" heißt) mit von Lowtzow, das seinen im deutschen Sprachraum weltberühmten Sänger nach zwei Minuten ausblendet und hinein in eine darauf hin noch doppelt so lang andauernde, besonders elastisch und beseelt agierende Collage morpht.
Doch auch die wenigen hier vertretenen Instrumental-Stücke, die zunächst vielleicht als Filler wahrgenommen werden könnten, sind sorgsam geschnitzte Wunderwerke, die dem Album die nötige beruhigende Balance verleihen und Beachtung verdienen: "Don’t Lose My Mind" beispielsweise vertont mit seiner geloopten Gitarre prachtvoll den Sonnenuntergang an jedem Strand dieser Welt, oder der auf einer wabernden Orgel reitende "Royal Asscher Cut" samt Quietsch- und Hup-Geräuschen, der sich auf einer "Best-of-Microhouse"-Compilation nicht schlecht machen würde.
An vorletzter Stelle des Albums steht ein Remix des Hildegard-Knef-Stücks "Ich schreib dir ein Buch": eine schlichte, kleine, große Liebeserklärung, in der Songwriting, Sehnsuchtspop und Techno noch einmal gleichsam subtil wie überwältigend zusammenkommen. "Amygdala" ist eine Welt, in der alles möglich ist, sie ist nicht krampfhaft herbeigezwungen, sie ist selbstverständlich, üppig, übermütig und schön. Musik ist Musik.