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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

30. 3. 2013 - 13:02

Abstürzende Luftschlösser

"Bioshock: Infinite" legt die Latte für interaktive Unterhaltung ein Stückchen höher.

Eine fliegende Stadt in den Wolken in einem alternativen 1912, sonnendurchflutete prächtige Boulevards zwischen schwebenden Gründerzeitvillen, auf denen die Reichen und Schönen dieser unwirklichen Traumstadt flanieren, während schwarze Sklaven im Hintergrund die Räder dieses mechanischen Wunderwerks am Laufen halten: Das ist Columbia, die wahnwitzig kühne Stadt in den Wolken in "Bioshock: Infinite".

Wir erinnern uns: Das 2007 erschienene "Bioshock" entführte uns wie sein direkter Nachfolger in eine diametral entgegengesetzte Metropole, nach Rapture, am Grund des Meeres. Doch trotz dieses Gegensatzes sieht man "Infinite" nicht nur im Namen das Erbe dieses großen Spieles auf einen Blick an: War es in Rapture eine faszinierende Mischung aus Retro-Science-Fiction, Neon und Jugendstil, die der Unterwasserdystopie ihre unnachahmliche Atmosphäre verlieh, so ist es in Columbia, das eigentlich Jahrzehnte vor "Bioshock" spielt, eine ebenso unnachahmliche Mischung aus Historismus-Steampunk, US-Patriotismuskitsch und sonnendurchleuchteter, scheinheilig melancholischer Nostalgie, die den Charakter von "Infinite" bestimmt.

So hat man sich, vielleicht, als Kind den Himmel vorgestellt: Eine auf den ersten Blick friedliche, luxuriöse Welt voller schöner, glücklicher Menschen, die im Nachmittagssonnenschein zwischen den Wolken ein heiteres Leben führen - im Unterschied zur zerstörten Utopie von Rapture ist Columbia auf den ersten Blick ein scheinbar perfekter Ort. Und natürlich ändert sich mit unserer Ankunft das alles gründlich.

Bioshock Infinite

2k Games/Irrational

In Heaven, everything is fine

Das in "Bioshock" ausgiebig thematisierte Dilemma des freien Willens - inklusive der Möglichkeit, sich bei den "Little Sisters" zum Guten oder Bösen zu entscheiden -, spielt in "Infinite" eine subtil andere Rolle; welche, das wird natürlich an dieser Stelle nicht gespoilert.

In der Gestalt des unbestimmt amnesischen Privatdetektivs Booker DeWitt sollen wir ein Mädchen aus dieser Luftstadt zurück nach New York bringen, doch schon bevor wir Elizabeth schließlich tatsächlich begegnen, bekommt die harmonische Fassade des nur perfekt scheinenden Himmelsstadtstaates tiefe Risse: Der Gründer Columbias, der "Prophet" Zachary Comstock, ist ein religiöser Fanatiker und Rassist, der atemberaubende technische Fortschritt in der Wolkenstadt gebiert furchterregende, aber auch tragische Mensch-Maschinen und aus irgendeinem mysteriösen Grund werden wir als "falscher Hirte" zum Staatsfeind Nummer eins ausgerufen.

Wie in "Bioshock" ist auch in "Infinite" die Mechanik des First-Person-Shooters jene tragfähige Konstruktion, die Narration und atmosphärisches Worldbuilding unterlegt, doch im Unterschied zu seinen Vorgängern ist "Infinite" straffer erzählt, legt noch mehr Wert auf seine Handlung, die spannende zehn Stunden lang gefangen nimmt. Hinter dem schwindelerregend und meisterhaft verwirrend erzählten Rätsel um Elizabeth und ihr Verhältnis zu Booker DeWitt und Columbia muss sogar die noch in "Bioshock" die Hauptrolle spielende dichte Atmosphäre einen Schritt zurück treten.

"Infinite" erzählt seine Geschichte nicht nur im Handeln des Spielers, in raffinierten Traumsequenzen und Rückblenden, sondern auch, wie es Serientradition hat, in überall im Spiel verteilten Audiologs sowie durch Hinweise in der Umgebung selbst. So setzt sich für geduldige Erforscher der Umgebung ein wesentlich hintergründigeres Gesamtbild zusammen als für jene, die "Infinite" hauptsächlich als Actiontitel durchqueren.

Bioshock Infinite

2k Games/Irrational

First-Person-Shooter für Anspruchsvolle

Aber auch für jene, die nicht so sehr wegen der Story, sondern hauptsächlich wegen des First-Person-Shooters gekommen sind, bietet Columbia genug: Obwohl die Gegnerschar keine Originalitätspreise gewinnt und Columbias Menagerie die Ikonenhaftigkeit des Gespanns aus Big Daddies und Little Sisters aus Rapture leider nicht einmal annähernd erreicht, finden sich im gewohnt experimentierfreudigen Arsenal aus Waffen und Zauberkräften und in den ungewohnt weitläufigen Kampfarenen genug Attraktionen, um "Infinite" nicht nur zur spannenden Geschichte, sondern auch zum herausfordernden und abwechslungsreichen Shooter zu machen.

Durch den Wechsel vom beengten Unterwasserschauplatz zur luftigen Wolkenstadt ändert sich hier auch der Charakter des Gameplays: Statt klaustrophobischem Nahkampf gibt es in "Infinite" Feuergefechte auch über größere Areale hinweg und dank der "Skyrails", des Schienensystems zwischen den fliegenden Gebäuden, auch eine angenehm vertikale Ausrichtung der Gefechte.

Wie in "Dishonoreds" Dunwall, dem "Infinite" atmosphärisch in späteren Teilen stark ähnelt, will auch der Schauplatz, die Stadt Columbia, hier die Hauptrolle spielen - doch ein wenig stehlen zwei Elemente dieser künstlerisch beeindruckend verwirklichten architektonischen Vision die Schau: Zum einen ist es die packend erzählte Mystery-Thrillerhandlung, die uns soghaft mitreißt und so ironischerweise verhindert, dass wir, wie in Dunwall oder Rapture, langsam ganz in der Atmosphäre des Ortes aufgehen; und zum zweiten ist es Elizabeth selbst, die uns für den Großteil des Spiels begleitet. Seit "Half-Life 2" und Alyx Vance wurde uns kein charmanterer und sinnvollerer Sidekick im Spiel zur Seite gestellt, und ihr Austausch mit uns als Booker DeWitt trägt mühelos den Großteil der narrativen Last des Spiels. In dieser so natürlich wirkenden Figur liegt vielleicht die Hauptleistung von "Infinite" - noch vor der beachtliche Haken schlagenden Story und dem soliden, aber beileibe nicht im vergleichbaren Ausmaß überragenden Gameplay.

Bioshock Infinite

2k Games/Irrational

AufAAAtmen

Wer - wie ich - anlässlich jüngerer Hochglanzreleases schon seine Zweifel hatte, ob "Triple-A", also das mit Millionenkosten produzierte Topsegment der Gamesindustrie, vor lauter Zielgruppenoptimierung noch das Zeug zur Innovation hat, darf mit "Bioshock: Infinite" aufatmen: Wenn schon, wie hier, Millionen in die Spielproduktion investiert werden, dann kann man das nicht nur sehen - und zwar nicht unbedingt an der grafisch adäquaten, aber keineswegs Bäume ausreißenden Unreal Engine 3, sondern an Art Design und grandioser Architekturvision -, sondern in mitreißendem Storytelling und durchaus innovativem narrativen Anspruch tatsächlich erleben.

"Bioshock: Infinite" ist für PS3, XBox360 und PC Windows erschienen.

Zugegeben, "Bioshock: Infinite" erfindet spielmechanisch das Rad nicht neu und kann den ersten Teil der Reihe in Sachen Kultstatus nicht ganz das Wasser reichen; als absolutes Ausnahmespiel im ansonsten auf verhältnismäßig hohem Niveau stagnierenden Segment des narrativen Shooters ist "Infinite" nach den eigenen Vorgängern, "Singularity" und "Metro 2023" nach längerer Durststrecke aber trotzdem ab sofort mühelos der Genreprimus im Bereich des narrativen First-Person-Shooters - zumindest solange "Half-Life 3" auf sich warten lässt.

Der große Name "Bioshock" bürgt auch hier für ein Spielerlebnis der Spitzenklasse. Wer sich als Spieler überhaupt für Narration im Shooter interessiert - oder auch nur sehen will, welche Luftschlösser abseits des tarnfarbenbraunen Military-Eintopfs möglich sind -, kommt am Wolkentrip nach Columbia nicht vorbei.