Erstellt am: 30. 3. 2013 - 15:41 Uhr
Zu leben ist ja viel komplizierter, als tot zu sein
"Es gibt Leberwurst zum Abendbrot. Ein rundes Metalldöschen mit Foliendeckel liegt auf dem Tablett, ausgerechnet Leberwurst, Leberwurst habe ich schon als Kind nicht gemocht, angewidert schiebe ich die Packung zur Seite. Fünf oder sechs Tage nach einer Lebertransplantation, ist da Leberwurst nicht ein wenig rücksichtslos?"
Rücksichtslos ist in diesem autobiographischen Roman gar nichts. Oder alles. Obwohl - ein Roman ist das nicht, vielmehr eine Sammlung von 277 Miniaturen und auch wenn David Wagner vor sechs Jahren eine Leber transplantiert wurde, so stellt er dem Erzählten voran: "Alles war genau so und auch ganz anders".
Susanne Schleyer
Der Ich-Erzähler hat wie der Autor David Wagner eine angeborene Autoimmunhepatitis. Schon seit seiner Kindheit, seit fast drei Jahrzehnten, muss er Medikamente nehmen. "Bin ich der, der ich zu sein glaube, nur durch die Medikamente? Heißt es nicht: Cortison macht Depression? Sind mein Fühlen, meine Wahrnehmung chemisch induziert? Bin ich vielleicht gar nicht der Mensch, der ich zu sein glaube, weil die Medikamente, die ich schon so lange, seit so vielen Jahren nehme, mich zu einem andren machen? Ist das, was ich fühle und zu sein glaube, nur das Ergebnis einer Krankheit?"
Weitere Werke:
- Meine nachtblaue Hose. Alexander Fest Verlag 2000
- Spricht das Kind. Droschl 2009
- Vier Äpfel. Rowohlt 2009
- Welche Farbe hat Berlin, Verbrecher 2011
Die Krankheit hat sein Leben, sein Denken und Fühlen geprägt. Unzählige Male war der Ich-Erzähler in Krankenhäusern, hat sich untersuchen und testen lassen. Er weiß, dass nur eine baldige Lebertransplantation sein Überleben sichern kann. Einmal schon hätte es ein passendes Spenderorgan für ihn gegeben. Damals wollte er seine Tochter nicht aufwecken und hat die Operation abgesagt.
Die Tochter, der Grund für seinen unbedingten Überlebenswillen.
Ein zweites Mal kann er nicht absagen.
Also bereitet er sich im Krankenhaus auf die Operation vor. Detailliert nimmt er die Atmosphäre im Krankenhaus wahr, beobachtet das Personal und lässt sich die Biographien und Geschichten der Zimmerkollegen erzählen.
rowohlt
"Selbst zu Friedenszeiten ist Leben im Rückblick bloß Überleben – ein Wunder, dass all die Menschen rings um einen herum noch da sind, beinah wären sei alle schon gestorben. Fast jeder hat so eine Geschichte zu erzählen, und viele halten es für ein großes Glück, überlebt zu haben, bis zu diesem Satz, jetzt, hier."
Er erinnert sich an wichtige Momente in seinem Leben, an bedeutende Personen, bemerkenswerte Situationen. An die Dinge eben, die das Leben ausmachen.
Der Ich-Erzähler geht noch einen Schritt weiter und macht sich Gedanken über den Spender oder die Spenderin, der oder die sterben musste, um sein Leben zu retten. Er wird nie erfahren, wer die Person ist. Fast entwickelt er eine Freundschaft zu der Person.
Er fragt sich, inwieweit ihn das Organ dieser Person verändert. "Genotypisch bin ich nicht mehr nur der, der ich war, ich bin jetzt auch die Person des Spenders, also du. Die Biochemie, die in mir Bewusstsein erzeugt, ist eine andere geworden. Ich glaube, es ist deine."
Vor der Operation reißt er Todesmeldungen aus der Zeitung und sammelt sie. Der Tod weicht ebenso wenig von seiner Seite wie die Hoffnung. Eine simple graue Doppelseite markiert optisch das Vorher und Nachher. Trennt die Angst von der Zuversicht.
Es ist zutiefst beeindruckend, wie David Wagner auf gut 280 Seiten über eine Krankheit schreibt und doch vom existentiellen Leben erzählt. Übrig bleibt das Konzentrat des Lebens. Und eines der besten Bücher dieses Frühjahrs. Zurecht wurde "Leben" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 ausgezeichnet.