Erstellt am: 15. 3. 2013 - 10:36 Uhr
Inszenierte Realitäten
Das Festival des österreichischen Films in Graz dauert noch bis Sonntag, 17. März.
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Maria Motter berichtet täglich aus den Kinosälen von Graz
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Petra Erdmann, Martin Pieper sprechen mit den ProtagonistInnen des Österreichischen Films.
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Ausgerechnet in einem Kinosaal raubt die Diagonale dem interessierten Publikum die Illusion: Die Biene im Anflug in "More than honey" ist ein tierischer Milli Vanilli auf der Leinwand! Die summt gar nicht selbst, das übernahm Geräuschemacher und Sounddesigner Nils Kirchhoff für sie. Beim Vortrag "Sound is.." im Annenhof-Kino plauderten SounddesignerInnen offene Berufsgeheimnisse aus.
Ein bisschen war die Veranstaltung eine "Sendung mit der Biene". Dass Ton wie Bild gestaltet wird, dürfte im 92. Jahr nach der ersten synchronen Tonfilmaufführung bekannt sein. Der Beruf des Foley artist, des Geräuschemachers, ist beinahe ausgestorben hieß es. Den aussterbenden Bienen hat Nils Kirchhoff übrigens mit dem Kazoo - einem sehr kleinen Musikinstrument - ein Summen verliehen. Auf der Diagonale lernt man jeden Tag etwas Neues und begeistert sich für mitunter bizarre Dinge.
Im Dokumentarfilm ist der Originalton zwar heilig, gestaltet und aufgefettet wird er allerdings ebenso, wie im Spielfilm schon mal ganze Szenen in der Postproduktion vollsynchronisiert werden. Das Bild im Dokumentarfilm wird außerdem immer schöner, behaupte ich. "Theatrical documentaries" heißt das Zauberwort, das der Regie größeren Spielraum in der Narration eröffnet. Dokumentarfilm wird zunehmend geschrieben. Aus den Recherchen entsteht eine Erzählung, die gedreht wird. Und das führt dann gleich zu zwei Empfehlungen für die kommenden Diagonale-Tage.
Von der Liebe binationaler Paare in Zeiten des demokratischen Rechtsstaats
Sehr unterhaltend, schön und nicht zuletzt höchst politisch ist Anja Salomonowitz Dokumentation "Die 727 Tage ohne Karamo". Im Vorjahr eröffnete die Diagonale mit Salomonowitz' Spielfilm "Spanien", einer Liebesgeschichte zwischen einer Restauratorin und einem Flüchtling mit großer poetischer Bildersprache. Nun hat Salomonwitz eine Doku zum Thema gemacht, die klug und herausragend ist.
"Ich kenne viele Beispiele aus meiner Ordination, wo Multikulti nicht funktioniert hat. Multikulti funktioniert bei Partys und Musik", liest eine Österreicherin aus einem warnenden Brief Arztpapas an sie vor.
Amour Fou Vienna-GmbH
Von der Ordnung der Gefühle
Wie einen Spielfilm inszeniert Anja Salomonowitz "Die 727 Tage ohne Karamo" mit den ihr besonderen, bis ins Detail durchkomponierten Einstellungen. Die gelben Gummistiefel, der gelbe Rechen und all die gelben Kleidungsstücke schließen einen Zufall aus. Die Personen treten vor die Kamera, berichten von ihren Beziehungen und vom Bemühen um die Erfüllung behördlicher Auflagen. Papiere und Einkommensnachweise samt Fristen wollen erbracht werden. Dennoch reicht das vielfach nicht. Vor den Sicherheitskontrollen am Flughafen Wien-Schwechat etwa steht eine Frau still im Trubel und erzählt knapp: "Pärchen haben sich geküsst und ich musste meinen Liebsten abschieben", weil der Aufenthalt nicht mehr legal gewesen wäre und sonst die Fremdenpolizei ihn in Schubhaft genommen hätte.
Salomonowitz zieht mit ihrem Stilmittel, dem ganz bewussten Nacherzählen gewisser Ereignisse an bestimmten Orten und mit eindeutiger zusätzlicher Ausstattung, Ebenen der Distanz ein. Die Paare bekommen Abstand von ihrer eigenen Geschichte. Das nimmt dem Film jeglichen voyeuristischen Blick und verhindert den nervigen Betroffenheitsduktus, der sich in Fernsehberichten über binationale Paare gern gleich vorweg einschleicht. Als ZuschauerIn räumt Salomonowitz einer/einem erst Distanz zum Geschehen ein. Das ist erfrischend und ja, angenehm, und eröffnet die Chance auf einen klaren Blick auf die Zustände.
Zu Wort kommen allerdings nur Menschen, auf die das Asylrecht einwirkt. Liebe, Arbeit, Reaktionen Angehöriger und die ständige Bedrohung durch eventuell negative Behördenentscheide, Kindererziehung und das Haustier Schlange als Mittel gegen Heimweh - Anja Salomonowitz klammert kein Thema aus. Im Fall einer Scheidung würde eine Frau ihren Mann mit diesem Schritt nach Ghana abschieben - ohne dies zu wollen: "Ich bin an diesem Fremdenrecht gescheitert".
Amour Fou Vienna-GmbH
Zuhause bei den Serienmörder-Profilern
Die Ermittlerin Helina Häkkänen-Nyholm sitzt im Taxi. Ob sie eine Art Jodie Foster aus "Schweigen der Lämmer" sei, will der Fahrer wissen. Ein geschmeicheltes Lächeln huscht über das Gesicht der Finnin, aber: "Nein". In "Blick in den Abgrund" porträtiert Barbara Eder sechs Profiler. Sie sind Serienmörder-ExpertInnen, forensische PsychologInnen und HauptkommissarInnen - und sie sind jene realen Personen, deren fiktive und vermeintliche Alter Egos einem aus Krimis und Serien so vertraut sind. Geskriptet gestaltet sich auch "Blick in den Abgrund".
Fälle erzählen sich nebenbei, im Mittelpunkt stehen die Profiler. Mehr als zwanzig Mal wurde einem weiblichen Opfer ins Gesicht in die Augenpartie gestochen, Helina Häkkänen-Nyholm sind derartige Verletzungen vor Tötungen neu. "An issue of overkill", diagnostiziert ein südafrikanischer Kollege am Telefon. Polizisten transportieren verwesene Körperteile in großen durchsichtigen Plastiktüten von einem Tatort in Pretoria ab. Es blitzt und donnert. Um die eigene Angst und Trauer kümmere sie sich erst, wenn der Fall abgeschlossen sei, vertraut die Finnin beim Wochenendhaus dem Publikum an. In ihr klares Gesicht schaut man gerne.
Peter Janecek / Prisma Film
Jede und jeder will in die Hirne schauen
Mit manchen Klischees räumt Barbara Eder auf. Spannend erfasst "Blick in den Abgrund" die unterschiedlichen Zugänge zur Ursachenforschung des "Bösen" und gewährt Einblicke ins Privatleben.
Während die forensische Psychologin und Profilerin Helen Morrison ein Gen als Ursache vermutet und Chipimplantante in Gehirne von Tätern wünscht, spricht sich ihr Chirurgen-Ehemann grundsätzlich gegen Experimente mit Häftlingen aus. Niemals könne sichergestellt werden, dass Menschen in Haft solchen Vorhaben freiwillig zustimmten. Ein Kollege Morrisons hingegen hält an den bekannten Theorien fest: Die Ursachen für Gewaltverbrechen lägen in der Kindheit. Jede und jeder für sich will in die Hirne der Täter sehen.
Peter Janecek / Prisma Film
An den Wänden am Arbeitsplatz kleben Fotos vergewaltigter und ermordeter Frauen zwischen acht und 82 Jahren, zu Weihnachten liegt eine handgeschriebene Karte von einem 33fachen Serienmörder in der Post. Das kam alles schon vor, erfährt man am Esstisch. Auf das blanke Grauen und Gruseln setzt Barbara Eder nicht.
Weitaus erschreckender und spektakulär ist Eders neue Doku gerade durch die Begegnungen mit Menschen. Relativ unvermittelt sitzt man als ZuschauerIn zusammen mit dem deutschen Profiler Stephan Harbort einem Serienmörder gegenüber. Der bullige Mann beantwortet Harborts Fragen, eine nach der anderen, während man beim Zusehen die eigenen Gefühle zu sortieren versucht.
Apropos Drehbücher
Heute vormittag wird der Thomas Pluch Drehbuchpreis verliehen. Am frühen Nachmittag findet das Werkstattgespräch mit dem Diagonale-Gast Dominik Graf statt. Die Vorfreude ist groß.