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Chrissi WilkensAthen

Journalistin in Griechenland

7. 3. 2013 - 15:47

Im Schlauchboot durch die Ägäis

Fast täglich stranden auf der griechischen Ägäis-Insel Lesbos Flüchtlinge und MigrantInnen aus Asien und Afrika. Und trotz Wirtschaftskrise und eigener Armut sind die Bewohner der Insel bereit sie zu unterstützen.

Später Nachmittag in der zentralen Polizeistation der griechischen Insel Lesbos. Ein junges Paar aus Afghanistan sitzt zusammen mit anderen Flüchtlingen zitternd im großen Wartesaal. Sie sind in den frühen Morgenstunden von der gegenüberliegenden türkischen Küste kommend im Norden der Insel gelandet. 28 Menschen, zusammengequetscht in einem kleinen Schlauchboot.

Der Vater hält seine vierjährige Tochter in den Armen, die mit hohem Fieber kämpft. "Bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland lief das Schlauchboot mit Wasser voll", sagt er, während er versucht, seine Tochter mit seinen Händen zu wärmen. Sie sind stundenlang erst am Ufer und später in den Bergen der Insel herumgeirrt, bis sie auf eine Hauptverkehrsstraße stießen. Ein Polizeiwagen hat sie dann aufgelesen.

Seit an der türkisch-griechischen Landesgrenze in Evros in Nordgriechenland ein Zaun gebaut wurde und die Grenzpolizei massiv aufgestockt wurde, hat sich der Flüchtlingsstrom auf die Ägäis-Inseln verlagert. Fast täglich kommen dort Flüchtlinge und MigrantInnen aus Asien und Afrika an. Auf der Insel Lesbos, wo die Einwohner selbst Flüchtlingswurzeln haben, hat sich ein Solidaritätsnetzwerk gebildet, um den Neuangekommen zu helfen und die Fremdfeindlichkeit - die in Griechenland starke Züge annimmt - zu bekämpfen.

Flüchtlinge auf Lesbos

Mytilene Metanasteutiko

Die afghanischen Flüchtlinge werden mit dem Polizeiwagen ins naheliegende Krankenhaus gebracht und untersucht. Danach werden sie bei der Polizei in administrativer Haft festgehalten. Der Grund: "illegale Einreise". Die Haft kann bei Menschen ohne Dokumenten und Asylsuchenden bis zu 18 Monate andauern. Afghanen oder andere Gruppen aus Kriegsgebieten können nicht abgeschoben werden. Falls sie keinen Asylantrag stellen werden sie meistens nach ein paar Tage freigelassen - mit einem Stück Papier, das sie auf Griechisch auffordert, innerhalb von 30 Tagen das Land zu verlassen.

Eine energische Frau betritt den Wartesaal des Krankenhauses. Efi Latzudi begrüßt die Flüchtlinge und schaut besorgt auf das Kind. "Wie viele Tage hat sie nichts gegessen? Wenn der Magen leer ist, können wir Milch und Kekse bringen", sagt sie. Die 44-jährige mit den braunen Locken ist Mitglied des Solidaritätsnetzwerkes "To Chorio tou Oloi Mazi" [auf Deutsch: Das Dorf aller Zusammen], das sich um Flüchtlinge und verarmte Bürger der Insel kümmert.

Es wurde im Herbst aus 26 verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen gebildet, als die Zahl der Flüchtlinge rasant anstieg und mehrere von ihnen tagelang auf der Straße und in naheliegenden Parks schliefen, weil die Zellen in den Polizeistationen überfüllt waren. Die Inselbewohner haben ein offenes selbstorganisiertes Lager als Alternative zur Internierung der Flüchtlinge im ehemaligen Sommerferienlager PIKPA eingerichtet, ein paar Kilometer vom Hafen entfernt. Mehr als 350 Flüchtlinge wurden seit Herbst in den kleinen Holzhütten. Unterstützt werden sie von den Einwohnern, Unternehmern, Aktivisten und der Kirche.

Flüchtlinge auf Lesbos

Chrissi Wilkens

Das Pikpa-Experiment ist eine im ganzen Land einmalige Reaktion auf die Haftbedingungen für MigrantInnen und Flüchtlinge in geschlossenen Lagern. Die Mitglieder des Netzwerkes fordern unter anderem, dass die Polizei schnelle Registrierungsverfahren einführt und die Flüchtlinge nicht interniert. Verübergehend inhaftiert werden kleine Kinder, Kranke, Minderjährige und sogar Behinderte.

Nahezu täglich treffen sich die Inselbewohner, um neu ankommenden Flüchtlingen zu helfen. Efi wurde durch einen Dorfbewohner im Norden der Insel über die Ankunft der afghanischen Flüchtlinge informiert und organisiert nun zusammen mit Maria Perdikouri, einer fünfzigjährigen Lehrerin die gerade die gerade im Krankenhaus angekommen ist, trockene Kleider und warmes Essen. Maria ist davon überzeugt, dass so eine Art von Aktivismus dringend notwendig ist.

Im Dezember wurden in der Nähe des Hafens von Lesbos afghanische Frauen im Schlaf von Unbekannten angegriffen. “Dieses Netzwerk hat viele und verschiedene Menschen zusammengebracht, was wir so nicht erwartet haben. Schulklassen, Unternehmer, Einzelpersonen. Dass sie alle Verantwortung übernehmen und bei den Aktivitäten mitmachen, das ist doch der beste Schutzwall gegen fremdenfeindliche Entwicklungen und Ideologien“, so Maria.

Bevor sie ins Krankenhaus fuhr, hat Efi noch Pfarrer Nikolaos Mavroudis angerufen. Wenig später steht auch er in der Klinik, mit Plastiktüten voller Kleidungsstücke. Der junge Priester drückt der Familie einen Stapel Kinderpullover und Hosen in die Hand, verteilt dann dicke Pullover und Socken an die anderen Flüchtlinge.

Die Mitglieder seiner Gemeinde helfen wo sie können. “Wir haben kein Problem mit den Fremden. Die meisten von uns haben Wurzeln in Kleinasien. Wir wissen aus Erzählungen unserer Großeltern, was es bedeutet, Flüchtling zu sein“ , sagt er und verweist auf die "Kleinasiatische Katastrophe", die sich 1922 nach dem Griechisch-Türkischen Krieg abspielte. In Folge eines von den Regierungen vereinbarten Bevölkerungsaustausches mussten 1,8 Millionen in Anatolien ansässige Griechen in ihre vermeintliche Heimat flüchten. Viele von ihnen hausten damals in ähnlichen Notunterkünften wie die Flüchtlinge heute.

Flüchtlinge auf Lesbos

Stelios Kraounakis

"Diese Menschen brauchen sehr wenig, um sich einigermaßen wohl zu fühlen in der Zeit, in der sie hier sind. Das Wichtigste meiner Meinung nach ist, dass jemand ihnen zuhört. Darüber hinaus bekommen sie von uns Infos über den Ort, an dem sie angekommen sind. So können sie mit ihrer großen Angst vor dem Unbekannten besser umgehen", sagt Efi. Sie selbst kommt aus Piräus und wohnt seit 12 Jahren auf Lesbos zusammen mit ihrer Familie. Zur Zeit ist sie arbeitslos. Als vor ein paar Jahren noch das berüchtigte Haftlager Pagani auf Lesbos in Betrieb war, begann sie, sich für die Rechte der Flüchtlinge einzusetzen.

2009 wurde Pagani nach mehreren Revolten der Insassen und heftigen Protesten von Mitgliedern internationaler Menschenrechtsorganisationen geschlossen. "Ich habe mich damit beschäftigt, als mir bewusst wurde, dass ich in einer Stadt mit einem Haftlager lebe, über das wir nichts wussten und nicht sprechen wollten und mit einem Friedhof, der voll mit Menschen ist, die ihr Leben in der Ägäis verloren haben", sagt sie.

Trotz der Wirtschaftskrise und der eigener Armut sind die Einwohner der Insel bereit, die Flüchtlinge zu unterstützen, sagt Pfarrer Evstratios Dimou. Er hat in verlassenen Bungalows in einem nahe gelegenen Dorf ein Lager mit Schuhen, Jacken, Hosen, Schlafsäcken und Lebensmitteln für die Flüchtlinge und verarmte Bürger eingerichtet und unterstützt das Solidaritätsnetzwerk. "Die Menschen geben von dem wenigen, was sie noch besitzen. Und ich hoffe, dass das so bleibt. Egal, ob die Armen aus Lesbos oder von der gegenüberliegenden Küste kommen. Das ändert nichts. Was wir hier versuchen, ist uns gegenseitig Hoffnung zu machen."