Erstellt am: 7. 3. 2013 - 10:31 Uhr
This is not the Harlem Shake!
Pop eat Pop
Pop darf das, meinen die einen. Diebstahl! - rufen die anderen. Die Geschichte der populären Musik, Moves und Moden ist eine der gegenseitigen Befruchtung, aber auch des wechselseitigen Klauens und der einseitigen Ausbeutung. Schon mit Bezug auf die Fünfzigerjahre, als der Rock 'n' Roll über den Teenager-Markt zu Pop wurde, etablierte die Kulturkritik das Narrativ vom "white guy who stole the blues". Gemeint war die An- und Enteignung sogenannter "race music" – also von Gospel, Blues, R&B – durch weiße Interpreten wie Elvis oder Jerry Lee Lewis im segregierten Nachkriegsamerika.
Während die weißen Rockabillies als Innovatoren die Welt eroberten, blieben die o.g. blues cats häufig arm und auf schwarze Radiostationen beschränkt oder sahen sich, wie Little Richard und Chuck Berry, zahlreichen Repressalien ausgesetzt. Erst die Nachfolgegeneration der Sechzigerjahre begab sich (zumeist von England aus) auf Spurensuche und schuf ein Bewusstsein für die Wurzeln des Rock 'n' Roll.
Elvis und die Black Community - Vorsicht, Fan-Video, also etwas blauäugig.
Der Diskurs um Enteignung flackert seither durch die Popgeschichte, flammte aber erneut so richtig auf, als Hip Hop seinen Siegeszug antrat (Eminem, davor der Charts-Surfer Vanilla Ice). Leider wird er seit jeher auf dem Rücken der Musiker ausgetragen, die, im Rückspiegel betrachtet, künstlerisch oder in ihrer Lebensrealität oft schon weiter waren als der gesellschaftliche Mainstream, aber noch immer in einem zutiefst rassistischen Umfeld agierten.
Hip Hop passé
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sehr zuletzt Hip Hop in den USA in die Defensive geraten ist. Kaum ein anderes Genre war vom Einbruch des Tonträgerhandels so stark betroffen. Dem Minus folgte eine Identitätskrise, die nicht zuletzt durch den Chauvinismus vieler Player verstärkt wurde. Nun toben über Radiosender wie der New Yorker Station Hot97 die Realness-Battles. Der Siegeszug der europäisch geprägten EDM-Music, die sich in Form geraderer Beats und Rave-Sounds auch in vielen zeitgenössischen Hip-Hop-Produktionen eingeschlichen hat, die Hipsterisierung des Genres durch Protagonisten wie Drake, Odd Future oder Kendrick Lamar und natürlich das Auftauchen sexuell ambivalenter Künstler wie Frank Ocean oder Angel Haze lassen jetzt so manch dicke Hose schrumpfen und viele Traditionalisten um das Erbe des "echten" Hip Hop fürchten. Schlichte Gemüter stoßen sich an "schwuler Mode", Kulturkritiker fürchten die Weißwaschung des afroamerikanischen Kulturerbes im Pop.
Harlem Shake, das - ähm - Original von Filthy Frank
Vor diesem Hintergrund hat nun ein Latino-Producer/DJ namens Baauer mit einem ca. 30-sekündigen Auszug seines Trap-Tracks "Harlem Shake" den Anstoß für einen der bisher am krassesten grassierenden Internet-Memes der Gegenwart gegeben. Der virale Tanzwahnsinn lässt nicht nur Millionen von Menschen via YouTube in einem großen Moment der "Vereinten Nationen des Spaßmatisierens" auszucken. Er veränderte auch das Notierungssystem der Billboard-Charts, die ab nun Video-Streams (neben digitalen und analogen Verkäufen) in ihre Bewertungsgrundlage miteinbeziehen.
Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand die Worte "Harlem Shake" in eine Suchmaschine tippte und sich auf die Suche nach möglichen Shake-Quellen begab. Dieser jemand war Chris McGuire. Der New Yorker Filmemacher und Autor hatte sich mit dem Clip V420 Stoner Edition selbst am Meme beteiligt. Als er anschließend bei seiner Netzrecherche auf den originalen Harlem Shake stieß, plagte ihn laut Huffington Post etwas, das man im angloamerikanischen Sprachraum "white guilt" nennt. Also schnappte McGuire seine Kamera und begab sich nach Harlem auf die 125th Street, direkt vor das legendäre Apollo Theatre, einer Heimstatt der afroamerikanischen Kultur . Dort konfrontierte er Passanten per iPad mit dem Meme und die waren vor allem entsetzt:
"This is not the Harlem Shake!", lautete die Mehrheitsmeinung. Und die Befragten hatten vollkommen Recht. Das, was da noch immer millionenfach über die Bildschirme flackert, ist tatsächlich nicht der Harlem Shake aus Harlem, New York City. Auch keine Aneignung, Interpretation, Verballhornung, Neuauslegung. Nada. Not the shake. Bloß, das war auch nie die Intention.
The Original Shake
Der originale Harlem Shake datiert zurück in die frühen 80er Jahre und ist ein Hip-Hop-Move, der – die Quellen sind sich einig – auf einen Tänzer namens Albert Beuce aka Al. B. zurückgeht. B. hielt mit seinen zuckenden Moves die Zuschauer von Streetball-Games in Harlems Rucker Park bei Laune. Es selbst ließ sich von seiner Mom und afrikanischen Stammesritualen inspirieren, bei denen die Tänzer wie elektrisiert und in Trance auf der Stelle sprangen. Unter seinen Bewunderern befand sich die junge Dance-Crew Crazy Boyz. Die vier Teenager erweiterten den Tanz um ihr eigenes Bewegungsrepertoire und popularisierten die Moves unter Harlems jungen Crews, bis schließlich der Name "Harlem Shake" geläufig wurde. In den 90ern stellte sich für die Crazy Boyz mit Auftritten in Musikvideos von G-Dep, Diddy oder Eve der Mainstream-Erfolg ein, ehe der Harlem Shake wieder aus der Mode kam.
Harlem Shake, das original Original.
Im Jahr 2003 wurde schließlich das von Baauer verwendete Vocal-Sample "Then Do The Harlem Shake" aufgenommen. Die Lyrics stammen von Jayson Musson, Mitglied der Rap-Truppe Plastic Little aus Philadelphia. Das Stück Miller Time bezieht sich allerdings nur in einem Nebensatz auf den Tanz: "I'll punch you in the face / then do the Harlem Shake". Ein Musikvideo dazu existiert nicht.
The Meme Shake
Nun hat Harrison Bauer Rodrigues aka Baauer, der nach seiner Ankunft 2007 in New York zwei Jahre in Harlem gelebt hat, in einem seiner seltenen Interviews zum Meme dem Online-Magazin The Daily Beast erklärt, dass sein Track weder etwas mit Harlem zu tun hätte, noch als Hommage an den originalen Shake gedacht war. Er habe bloß einen Synth-Sound aus dem niederländischen Underground-Stil Dutch House (oder Dirty Dutch) entwendet, mit einem Hip Hop Beat gekreuzt und jede Menge "crazy shit" reingepackt. Das alles, um einen möglichst "flashy" Track zu kreieren "to get anyone's attention". Ein Freund hätte ihm den Plastic-Little-Track vorgespielt. Seitdem sei das Sample in seinem Kopf herumgeschwirrt. Daraus wurde schließlich auch der Name des Stücks. No big deal.
Der Harlem Shake - not a white-folks-only-meme
Aber das ist nur die halbe Geschichte. Hätten nicht einige crazy kids ganz eigenwillige Interpretation des vermeintlichen Harlem Shake per YouTube in die Welt gesetzt, wäre es wohl nie zu entrüsteten Harlemnites gekommen, die sich um ihr Kulturgut betrogen fühlen. Laut Knowyourmeme.com stammt der erste Shake vom Online-Comedian Filthy Frank, der den Clip Anfang Februar, einige Monate nach dem Release des Baauer-Tracks, online gestellt hat. Als erster Nachahmer wird ein australischer User namens "Sunny Coast Skate, PHL_On_NAN or the Maker crew" genannt. Beide Videos sind angeblich von einem anderen Meme inspiriert, nämlich dem "Norway's Crazy Humping Men"-Meme (Vorsicht, nicht ganz jugendfrei).
Oslo not Harlem
Anders als beim Rock 'n' Roll der 50er Jahre oder selbst beim Gangnam-Style-Meme haben wir es beim Harlem Shake mit einem kaum zu durchdringenden Referenzdickicht zu tun. Hier kann nicht mehr von Aneignung oder Ausbeutung im klassischen Sinn gesprochen werden. Es besteht keine direkte oder stringende Verbindung zwischen Quelle und Interpretation, zwischen "Ausbeutern" und "Ausgebeuteten". Und doch sind die Folgen nicht ohne. So hätte das Netz mit seiner viralen Dynamik beinahe alle Spuren des Originals verwischt.
Was ist aber mit den Bewohnern Harlems, die auf ihren Harlem Shake pochen und Respekt für ihre Kultur einfordern? Nun, sie sind zunächst vom sich schuldig fühlenden Filmemacher Chris McGuire offensichtlich nicht ausreichend über die Umstände des Memes aufgeklärt worden. Aus Harlem stammende Rapper wie Azealia Banks oder Asap Rocky stoßen sich jedenfalls nicht am "neuen" Shake. Und ehemalige Protagonisten wie die Crazy Boyz pochen zwar auf ihr Erbe, freuen sich aber über das wiedererwachte Interesse am Original.
Azealia Banks Shake - auch eine kontroversielle Geschichte.
Und zum anderen sind die Menschen, die man in dieser Umfrage als geschlossenen Block präsentiert bekommt, kaum mehr repräsentativ für das zeitgenössische Harlem. Der traditionsreiche Nukleus der afroamerikanischen Kultur und politischen Emanzipation steht mittlerweile unter starkem Gentrifizierungs-Druck – v.a. durch die Columbia University. Die liberale Elite-Uni, die sich im Norden Manhattans befindet, hat zahlreiche Wohnhäuser Harlems aufgekauft und in Studentenwohnheime und Fakultätsgebäude verwandelt. Der Anteil der schwarzen Bevölkerung ist seit Jahren stark rückläufig. Vom Aufschwung des Viertels bleibt sie größtenteils ausgesperrt. Armut, schlechte Ausbildung, hohe Arbeitslosigkeit und die rassistische Stop-And-Frisk-Praxis des NYPD setzen der Community zusätzlich zu.
Kein Wunder also, dass angestammte Bewohner bei jedem Anflug von Enteignung sauer reagieren, selbst wenn diese, wie beim Harlem Shake, den Untiefen des Internets entsprungen ist.
Das Meme als Radiergummi von Kultur und Identität? Etwas grübelnd macht mich diese Dynamik der digitalen Tsunamis schon. Gegen Amnesie scheint das alles in sich aufnehmende und archivierende Netz jedenfalls nicht immun. Auch in Bezug auf das gute alte Urheberrecht.
billboard
Während unbekannt ist, ob Baauer jemals die von ihm verwendeten Musik-Samples geklärt hat, verdient sein Label Mad Decent kräftig am Meme mit. Statt die widerrechtliche Verwendung des Tracks durch die Tausenden Bedroom-Dance-Crews zu beanstanden, hat Label-Chef Diplo von der Option der Werbevermarktung Gebrauch gemacht, mittels der man sich von Google/YouTube nicht autorisiert verwendeten Content abgelten lassen kann und zwar gegen Stream-Raten. Der Baauer-Shake notiert nun schon die dritte Woche auf der Nummer-eins-Position der Billboard Charts. Schätzungen zufolge existieren mittlerweile über 90.000 Harlem-Shake-Videos. Selbst der Clip mit der Meinungsumfrage in Harlem hat es bisher auf stolze achteinhalb Millionen Views gebracht. Auch so kann sich white guilt bezahlt machen.