Erstellt am: 5. 3. 2013 - 14:20 Uhr
Ein nacktes Mädchen
30.000 Menschen in Österreich haben sich vergangenes Wochenende "3069 Tage" angesehen. Warum? Das könnte man sich fragen. Eine Antwort wäre: Um zu sehen, wie das visualisiert wurde, was Natascha Kampusch bislang nicht mit einem Publikum in ihren Medienauftritten teilen wollte.
Bernd Eichinger begann die Arbeit an "3069 Tage" mit Natascha Kampuschs Zustimmung und mit Gesprächen mit Kampusch. Realisiert hat den Film, nach Eichingers Tod vor zwei Jahren, nun die Britin Sherry Hormann mit ihrem Ehe- und Kameramann Michael Ballhaus.
Constantin Film Verleih
Wie ein Fernsehkrimi
Blaubestrumpfte Kinderbeine zucken, ansonsten rührt sich nichts unter der schweren blauen Decke, unter der die wie betäubte Natascha im Kellerverlies liegt. Am Ende des Films wird sie wieder unter einer blauen Decke verschwunden sein und nur die Beine werden, flankiert von zwei Polizisten, vor ein Fotografenblitzlichtgewitter treten.
Der Entführer Priklopil bringt eine Matratze. Das Mädchen macht sich aus einem Plastiksackerl und ihrer Jacke einen Polster. Das Licht geht aus. Im Erdgeschoss des Hauses sitzt Priklopil am Küchentisch vor einer Fototapete mit Waldmotiv. Dass jemand in Gedanken in diesen Wald entfliehen wird, ist vorprogrammiert.
Das Casting ist gut. Für den Entführer Priklopil verrutschen dem dänischen Schauspieler Thure Lindhardt in kaum einer Spielminute die Augen. Als der arbeitslose Fernmeldetechniker Wolfgang Priklopil Natascha Kampusch entführte, war er 35. Antonia Campbell-Hughes wäre garantiert auch mit den achtzehn Kilos, die sie nach eigenen Angaben für die Rolle abnahm, eine hervorragende Besetzung. Campell-Hughes ist dreißig, im Film spielt sie Kampusch in ihren Jugendjahren bis zur eigenhändigen Befreiung. Auf diese Befreiung arbeitet auch der Film chronologisch hin. Es wird ein mittelmäßiger Fernsehkrimi. Allein, im Kino kann man nicht nebenbei Geschirr abwaschen.
Die Kommunikation zwischen Kellerverlies und Wohnzimmern im Erdgeschoss verläuft via Gegensprechanlage: "Gehorche. Gehorche! Gehorche!"
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Ein entführtes Kind als Haussklave
Tag Drei, Tag 183, dann gleich mal "4 Jahre später", 1695 Tage weiter, und die erste Menstruation. Natascha darf erstmals den Kellerraum verlassen und in die Wohnräume des Hauses. Der Dialog, den Priklopil zuvor mit dem Mädchen führt, könnte jener eines Paares am Limit auf Sommerurlaub sein: "Ich habe meine Periode" - "Jetzt schon?! Oh na toll, das noch. Das ist eklig", sagt Priklopil, der dem Mädchen eben ein Kleidungsstück zum Nähen in den Kellerraum bringen wollte. Das Mädchen fordert, nach oben zum Duschen zu dürfen. "Es gibt kein oben". Beim Duschen kommentiert Priklopil ihre Schamhaare. Kampusch kontert: Ob er denke, sie werde eingesperrt nicht älter?
Das Mädchen wird fortan meist halbnackt gezeigt. Es trägt Männer-T-Shirts oder Männer-Unterhosen, doch selten darf es beides gleichzeitig anhaben. Als Mutter Priklopil dem Sohnemann Essen vorbeibringt und ihm ein blondes Haar vom Hemd zupft, neckt sie ihn erfreut ob einer "Freundin". Dem Mädchen rasiert Priklopil daraufhin das Kopfhaar.
Das entführte Kind als Haussklave ist das Motiv, das "3069" vor allem prägt. Der Film beschränkt sich auf die - visuell - heftigsten Tiefpunkte während der Gefangenschaft. Ein Übergriff folgt auf den nächsten. Es sind aneinandergereihte Momentaufnahmen, die - man muss es leider so traurig ausdrücken - im besten Fall kurz schockieren.
Einem Sadisten zusehen
Regisseurin Sherry Hormann nimmt der Darstellung vieles an möglicher Härte. Die Todesangst und all die anderen Ängste, die sich in einem gefangenen, misshandelten und missbrauchten Menschen abspielen müssen - es wird erst gar nicht versucht, diesem inneren Horror nachzuspüren. Ab und an übertönt sphärische Musik Gewaltszenen. Man schaut einem Sadisten beim Kind-Quälen zu. Unmotiviert wechselt die Handlung mittendrin zwei, drei Mal den Schauplatz und ins Wohnzimmer der Mutter, die ihre Tochter vermisst.
Marcus Schleinzers Spielfilmdebüt "Michael" etwa, dem kein realer Fall zugrunde lag, ließ sich Zeit, um das - wohlgemerkt fiktive - Täterprofil zu schärfen. Schleinzer ließ einen als KinobesucherIn auch einige Minuten alleine und zurück mit dem Kind im Keller. Er machte den Horror und das Leid erahnbar.
1837 Tage, im Keller wird Weihnachten zelebriert wie die schaurigste Theatervorstellung. Ein Walkman als Geschenk, Priklopil im feinsten Anzug zoomt mit seiner neuen Videokamera auf das Mädchen. Endlich trägt das Kind Kleidung, die es bedeckt. Es freut sich wie verrückt über das Dschungelbuch und die Schatzinsel. Und bekommt von Priklopil einen neuen Namen, weil er alles für es sei, "weil ich dich erschaffen habe". Die Allmachtsfantasie schlägt zu.
Psychisch und physisch malträtiert, missbraucht Priklopil das bis auf die hervorstehenden Schulterblätter abgemagerte Mädchen. Nur in einer Männerunterhose bekleidet, hat es das Schlafzimmer im Dach hergerichtet. Bevor Priklopil noch Anweisungen erteilt, hält es schon seine Hände aneinander: Mit Kabelbinder fesselt der Entführer das Mädchen.
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Fiktiver Sex mit Kind - jetzt in jedem Kinoplex
Dieser Priklopil existiert im Film nur innerhalb seines Hauses. Einmal tanzt er in der Disko, dann kauft er hastig Damenbinden und Kondome. Die Sexszene Priklopils mit dem Mädchen ist kaum zu ertragen. Zwar spielt sich alles unter der Bettdecke ab. Doch ein nacktes, komplett untergewichtiges Mädchen minutenlang zu zeigen, war ohnehin schon schwer bis gar nicht zu ertragen. Den Sex mit einer Minderjährigen in Kinoplexen auf die Leinwand zu bringen, hat so in jüngeren Jahren noch niemand geschafft.
Die Geschichte mag es erfordern, auch noch den allerletzten Voyeuren klar zu machen, dass Natascha Kampusch auch sexuell missbraucht wurde. Aber die Darstellung ist eine Zumutung über der Grenze. "3069 Tage" ist ab vierzehn Jahren freigegeben. Diese Fiktion von Sex mit Kindern im Entführungs-Biopic, das auf realen Erinnerungen und Erlebnissen basiert, sollte als hoch problematisch erachtet werden. Regt fiktiver Kindersex auf der Leinwand niemanden auf? Das ist verstörend.
Wider Willen
"3069 Tage" ist derzeit in den heimischen Kinos zu sehen
Sich angesichts der mehr als achtjährigen Gefangenschaft Natascha Kampuschs über die Machart eines Spielfilms zu mokkieren, will nicht anmaßend verstanden sein. Die Warum-Fragen werden mit jedem Sprung auf die nächsthöhere Tages-Anzahl in der 111-minütigen Drama-Zeit mehr. Warum will das jemand freiwillig sehen? Warum will man das teilen?
Am Ende rennt die Film-Natascha durch eine Schrebergärtensiedlung und versucht jemanden zu finden, der ihr glaubt. Dass sie Natascha Kampusch, das 1998 entführte Mädchen ist. Das Bild erinnert an Alice im Wunderland. Wider Willen.