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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

28. 2. 2013 - 10:39

Präzision als Prinzip

Im Blick zurück entsteht die Geschichte: Lisa Kränzler führt mit "Nachhinein" in Mädchenwelten, in denen sich Zuneigung und Brutalität überschlagen.

Unter den fünf Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Belletristik, ist auch die Österreicherin Anna Weidenholzer mit "Der Winter tut den Fischen gut".

Das ging schnell. Neun Monate nach ihrem literarischen Debüt liegt der nächste Roman von Lisa Kränzler in den Buchhandlungen. Und die 29-jährige deutsche Autorin ist damit für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, der am 14. März vergeben wird.

"Nachhinein" ist eine Coming-of-age-Geschichte. Inklusive Verstörung durch das erste Absondern bisher unbekannter fremder sowie eigener Körperflüssigkeiten? Ja. Mit niedlichen Bekanntschaften? Ja, etwa einem ägyptischen Buben mit krokodilgrünen Augen. Und werden Fantasien in Spielen ausgelebt? Selbstverständlich, auch das muss sein, bis neue Welten aus der Spielkonsole kommen. Missbrauch, gefolgt von Selbstverletzung ist ein Thema. Okay, und nun soll man "Nachhinein" lesen? Unbedingt!

Eine körperliche Wucht

Autorin Lisa Kränzler

Lisa Kränzler

Denn "Nachhinein" ist eine Wucht. Lisa Kränzler ist eine clevere Erzählerin, deren Stil ein sprachlicher Triumph über die erzählte Handlung ist. Kränzler klatscht ihrer Hauptfigur die Sonne ins Gesicht, spaltet durch rötlich-schwärzliches Klaffen eine Handfläche und der Kies schweigt, wenn es regnet. Kränzler hat Malerei studiert, ihre Erzählschärfe schafft beim Lesen einen Film im Kopf.

Das Fingerspitzengefühl der ersten drei Sätze setzt auf keiner der folgenden 269 Seiten aus:

"Nachhinein" von Lisa Kränzler ist im Verbrecher Verlag 2013 erschienen. Die Leseprobe geht hier weiter.

Unwahrscheinlich, dass sich das Gefühl ihrer frisch gesprossenen, streichholzkopfkurzen Haarspitzen unter meiner Handfläche nach mehr als 24 Jahren noch wiedererwecken lässt…
Glücklicherweise schert sich meine Erinnerung einen Dreck um Wahrscheinlichkeiten und lässt meine kleine, dickliche Hand wieder und wieder über ihren großen, kahlgeschorenen Kinderkopf streichen. Im Hintergrund grölen gnadenlose Zwergstimmen einen heute harmlos anmutenden Spitznamen: „Igel“.

Aus "Nachhinein" hat Lisa Kränzler im Juli 2012 in Klagenfurt gelesen. Und bekam dafür den 3Sat-Preis.

Kindliche Weltsicht nachzuahmen, damit kann man nur gewaltig scheitern. Lisa Kränzler bedient sich jenes Kunstgriffes, der bereits ihren Debütroman "Export A" auszeichnete. Mit dem vorangestellten Verweis auf den Rückblick spielt sich die Autorin frei.

Namen tun hier nichts zur Sache

Jasmin oder Celine oder Justine heißt das eine Mädchen. Der Name des anderen Mädchens, jener der Ich-Erzählerin, ist vielleicht Lotta, vielleicht Luisa oder vielleicht Luzia. Vornamen tun nichts zur Sache, zur Geschichte trägt höchstens der Nachname der Ich-Erzählerin in "Nachhinein" bei.

Hier das Arbeiterkind hinter verstaubten Gardinen, dort die Akademikertochter am Klavier. Lotta-Luisa-Luzia ist eine „von“, eine „von Braun“ obendrein, mit Vorvätern, die sich im Lexikon der elterlichen Brockhauswand als Nazis herausstellen. Aber die Autorin Lisa Kränzler betreibt in ihrem Roman „Nachhinein“ eine Geschichts-Aufarbeitung anderer Art und die Klassenunterschiede sind beliebig.

Es geht um Jasmin-Celine-Justine und Lotte-Luisa-Luzia und um ihre verschworene Freundschaft. Bis kindliche Spiele, zärtliche Zuneigung und etwas, das Erwachsene vielleicht als sexuelle Momente definieren würden, auf Brutalität treffen. Mütter, die an Bademäntel glauben, und die Blutsschwester, die nicht begreift.

"Kotzreiz.
Ein Klumpen Magen zwischen anderen verräterischen Organen, die weiterpumpen und atmen und filtern, als wäre nichts dabei."

Wird nie fad

Buchcover zu "Nachhinein" von Lisa Kränzler mit einem Spielzeugpferd, das kopfüber steht

Verbrecher Verlag

Kränzler hat ihre Ich-Erzählerin, die den Großteil der Geschichte berichtet, mit einer scharfsinnigen, mitunter altklugen Art ausgestattet. Lotta-Luisa-Luzias Blick macht das Buch unterhaltsam. Fad wird „Nachhinein“ nie.
Nicht zuletzt punktet die Geschichte auch mit wunderbaren Hommagen an Musik und das Klavier.

"Die Klappe öffnet sich von selbst. Gewohnheitsmächte führen meine Rechte bis dicht über die Tasten. Weiß und Schwarz und Glatt wecken ein Begehren in meiner Mitte. Kleine, flinke "Ich will"-Wellen eilen Richtung Fingerspitzen, die schweben, zittern, zögern. Ich kann den Anschlag nicht verhindern."

Empfehlung.