Erstellt am: 15. 2. 2013 - 19:40 Uhr
Leiharbeiter: Von Arbeitslust und Wanderfrust
Online die Nummer eins sein: das wollen sie alle, die Verkäufer im großen weiten Netz. Branchenprimus Amazon zeigt vor, wie das geht. Jetzt sind alle entsetzt, weil die ARD sich die Arbeitsbedingungen der modernen Wanderarbeiter bei Amazon genauer angesehen hat.
Der Fall von Amazon
Bequem, praktisch, schnell und billig. Und irgendwie auch ein wenig hip. Das Image, das sich Amazon seit dem Start 1994 verpasst hat, hat einen ordentlichen Kratzer abbekommen. Die ARD-Reporterin Diana Löbl und ihr Kollege Peter Onneken haben sich die Lager von Amazon angesehen und dabei festgestellt, dass die Nummer eins im Online-Handel mit den eigenen MitarbeiterInnen gar nicht so lieb und serviceorientiert umgeht. Nach ihrer Langzeitreportage erheben sie jetzt schwere Vorwürfe.
Konkret: Amazon beute die LeiharbeiterInnen aus, die in den Hochsaisonen für schlechte Bezahlung aus ganz Europa nach Deutschland gekarrt werden. Die modernen WanderarbeiterInnen sollen mit falschen Versprechungen angelockt werden und Amazon betreibe eine Personalpolitik in den Logistikzentren, die auf Einschüchterung und Misstrauen beruhe.
dpa/Jan-Philipp Strobel
En vogue: WanderarbeiterInnen in Europa
Aus ganz Europa, aus Spanien, Polen, Litauen usw. sollen tausende LeiharbeiterInnen in Bussen nach Deutschland gebracht werden. Das Versprechen: ein geregeltes Einkommen und ein halbwegs sicherer Job beim Weltkonzern Amazon. Angekommen an der versprochenen Arbeitsstelle sei dann alles ganz anders, beklagen die ArbeiterInnen: Der Vertrag, der ihnen vorgelegt wird, besagt: 12 Prozent weniger Lohn als versprochen und der Arbeitgeber ist nun nicht mehr Amazon selbst, sondern eine sogenannte Leiharbeitsfirma. Die Arbeitsbedingungen danach: Bis zu 17 Kilometer Fußweg pro Schicht und 15 Tage durcharbeiten ohne Ruhetag. Lassen die Aufträge nach, müssen die ArbeiterInnen wieder ihre Koffer packen, von einem Tag auf den anderen, die Kündigung kommt nach Dienstschluss.
Erfolgsmodell: Chinesische Verhältnisse
Dem nicht genug, sollen die WanderarbeiterInnen rund um die Amazon-Logistikzentren in verlassenen Ferienanlagen und Motels eingepfercht werden. Zu sechst, wildfremde Menschen auf kleinstem Raum. Unter ständiger Aufsicht von Securities, denen Verbindungen in die rechte Hooliganszene vorgeworfen wird. Filmen und Fragen stellen ist unerwünscht. Taschenkontrollen stehen ebenso an der Tagesordnung wie unangemeldete "Quartierbegutachtungen" durch das Sicherheitspersonal, während die ArbeiterInnen in der Schicht sind. Englischsprachige Zeitungen schreiben deswegen bereits vom "KZ und Arbeitslager Amazon". Eine Geschichte, die sich liest wie kapitalistische Verirrungen aus China.
Shitstorm und Boykott
Wegen der ARD-Doku ist über Amazon – wie das Amen im Gebet – ein Shitstorm hereingebrochen. Auf dem Facebook-Auftritt wurden die Valentinstags-Kaufangebote mit Boykott-Aufrufen zugedeckt. Die vielen Beschwerde-Emails beantwortet Amazon zurzeit mit einem standardisierten Antwortschreiben. Kernaussage: man werde die Vorwürfe prüfen und nehme das natürlich sehr ernst. Einige Kunden, denen diese Antwort zu wenig ist, verbreiten in den sozialen Netzwerken inzwischen Anleitungen, wie man seinen Amazon-Account kündigen kann. Ob der Boykottaufruf allerdings nachhaltige Wirkung entfalten kann, um die Arbeitssituation der ArbeitnehmerInnen zu verbessern, ist leider zu bezweifeln.
Flexibel und allzeit bereit
Den Vorwurf, menschenunwürdige Zustände systematisch als Geschäftsmodell etabliert zu haben, pariert Amazon damit, dass den mehr als 7.700 festangestellten MitarbeiterInnen ohnehin mehr als 10 Euro Lohn pro Stunde bezahlt werde. Allerdings - im Nebensatz das Detail - nur jenen, die länger als ein Jahr im Unternehmen arbeiten. Wie viele das sind, bleibt ein Geheimnis. Ebenso, wie viele Leiharbeiter in den Logistikzentralen beschäftigt sind.
In der ARD-Doku spricht man in einer Vertriebsstelle von 200 fixen Mitarbeitern bei etwa 3000 Beschäftigten. Bei Erhebungen von deutschen Gewerkschaftern ist ein Verhältnis von 1:5 zwischen LeiharbeiterInnen und fest angestellten MitarbeiterInnen herausgekommen. Amazon spricht freilich von Auftragsspitzen und der Notwendigkeit von flexiblen Arbeitskräften. Dass diese billiger sind und schneller wieder rausgeworfen werden, sind positive Nebeneffekte und irgendwie ja auch der Sinn des Systems.
Moderne Arbeitssklaven, ganz legal
Daraus einem Online-Händler wie Amazon allerdings einen Strick zu drehen, ist wenig sinnvoll. Schließlich bewegt sich die Firma, nach aktuellen Erkenntnissen, durchaus im Rahmen unserer Gesetze. Firmensitz in Luxenburg, Milliardenumsatz, bei offiziellen schlappen 55 Millionen Euro Gewinn, deswegen kaum Steuerleistung und eine kreative Auslegung der europäischen Arbeitsrechte inklusive. Wie das funktioniert hat Falter-Kollegin Ingrid Brodnig wunderbar ausgerechnet und dargestellt. (Das böse Paket). Die Frage, die sich trotzdem jetzt viele stellen mögen, ist: Wie ist das möglich, mitten in Europa?
Ob Zalando, DHL oder Amazon: Sie alle profitieren von den neuen europäischen WanderarbeiterInnen. Große Firmen, die diese Menschen herumschieben, nennen sie allerdings lieber Leih- oder ZeitarbeiterInnen. Gerne wird das sprachlich noch schicker verpackt mit der Subsumierung als "Neue Selbstständige". Ob bei SekretärInnen, ArchitektInnen, LehrerInnen, ArbeiterInnen oder JournalistInnen, die Arbeitsrechte sind in den vergangenen Jahren Stück für Stück weniger worden - dem Dogma von der Wettbewerbsfähigkeit folgend. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind dann meistens junge und ältere ArbeitnehmerInnen. Der Weg zur Leiharbeitsfirma und ins Prekariat wird letztendlich doch lieber beschritten, als jener in die Arbeitslosigkeit.
Österreich gut dabei
Einer der Pioniere im Bereich der Leiharbeit ist die österreichische Firma Trenkwalder. Auch für Amazon hat sie WanderarbeiterInnen aus ganz Europa unter Vertrag genommen und kräftig mitgemischt. Der Firmensitz der Trenkwalder International AG liegt in Brunn am Gebirge bei Wien.
Aus dem 1985 gegründeten Einzelunternehmen von Richard Trenkwalder ist ein multinationaler Konzern mit 70.000 MitarbeiterInnen in 19 Ländern entstanden. Interviewanfragen im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen Amazon lehnt man dankend ab. "Bitte um Verständnis, dass wir zu dem Thema keinen Kommentar abgeben werden", schreibt die Pressesprecherin. Es fragt sich nur: wofür Verständnis?
Es sich einfach machen?
Jetzt, wo die Aufregung groß ist, will niemand etwas geahnt haben. Ein entrüsteter Verleger kündigte zwar die Zusammenarbeit mit Amazon auf, am Grundproblem ändert das nichts. Und, dass von diesem Problem nur Deutschland, Amerika und China betroffen sind, sollte nun endgültig ins Reich der Märchen überführt sein.
Für uns als KonsumentInnen Gebrandmarkte gilt allerdings: nur zum Konsumboykott aufrufen, wird nur kurz etwas verändern. Hier ist einmal mehr die Politik gefordert und die Frage nach welchen Spielregeln wir unsere "Freiheit der Märkte" gestalten wollen.
Übrigens: Zalando hat vor kurzem bekanntgegeben, dass die Umsatzmilliarde geknackt wurde. Es darf gejubelt werden.