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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

16. 2. 2013 - 11:48

Der Sog des Meeres

Wie schwer wiegt Loyalität? Was würdest du für eine Freundschaft tun? Und wieviel Geheimnisse verträgt eine Familie? Fragen, die Nick Dybek in seinem Debüt "Der Himmel über Green Harbour" aufwirft.

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"Ich erinnere mich daran, was mein Vater immer über den Blick von Alaska-Fischern sagte, wenn sie kurz vor dem Zusammenbruch waren. Die Leere in den Augen, wenn die winterliche Dunkelheit und der Wahnsinn der Brecher in das Gemüt eindrangen. Das nannte man den Aleuten-Blick. Das passiert immer wieder, pflegte mein Vater zu sagen, dunkle Tage, kein Schlaf, die Last des Wassers, die Arbeit und der tief hängende Himmel, die einen bedrückten."

Buchcover Nick Dybek "Der Himmel über Green Harbour"

Mare Verlag

Nick Dybek "Der Himmel über Green Harbour" ist von Frank Fingerhuth übersetzt bei Mare erschienen.

Auf ihren vernarbten und von der See gegerbten Gesichtern spiegelt sich das kraftraubende Doppelleben wider, dass die Krabbenfischer von Loyalty Island führen. Im Winter treibt es sie auf ihren Kuttern in die stürmische Beringsee hinaus, um den Unterhalt für ihre Familie zu verdienen. Wenn die wortkargen Männer im Frühling nach Hause zurückkehren, sind sie immer wieder damit konfrontiert, dass sie sich von ihren Frauen und Kindern entfremdet haben.

Der vierzehnjährige Cal vergöttert seinen Vater Henry, leidet aber, wenn dieser Monate lang auf See ist. Cals Mutter, eine rothaarige Schönheit, ist von Kalifornien der Liebe wegen in das einsame Dörf Green Harbour gezogen. Sie schottet sich zunehmend in ihrem Kellerstudio ab, um mit der Musik ihrer geliebten Langspielplatten der harten Realität zu entfliehen, bis sie schließlich eines Tages wirklich verschwindet. Und als dann auch noch der von allen verehrte Fischerflottenbesitzer John Gaunt stirbt, gerät das Leben aller ins Wanken.

Die Last dunkler Geheimnisse

Richard Gaunt, der Sohn des einflussreichen Fischereibesitzers, kehrt nach dem Tod seines Vaters in das Dorf Green Harbour zurück. Der zynische Weltenbummler, der sich immer als Außenseiter dieser verhermten Seefahrergemeinde gefühlt hat, kündigt als Racheakt an, die gesamte Kutterflotte an die Japaner zu verkaufen.

Der clevere Fischer Henry beschließt mit zwei Freunden, nicht tatenlos bei diesem Ausverkauf zu zu sehen und schmiedet einen Plan, wie sie den unbequemen Richard ein für alle Mal los werden können. Unabsichtlich belauscht sein Sohn Cal ein nächtliches, geheimes Treffen der Fischer und steht damit vor entscheidenden Fragen: Soll er seinem Vater gegenüber loyal sein und das tödliche Geheimnis bewahren? Kann er und seine Familie mit dieser Last weiterleben? Oder soll er gegen seinen Vater handeln und ihn damit verraten? Als Cal beschließt, sich seinem Schulfreund Jamie anzuvertrauen, beginnen die Dinge aus dem Ruder zu laufen und eine Katastrophe scheint unausweichlich.

Der amerikanische Autor Nick Dybek im Portrait

© Melissa Blackall

Die Vergangenheit Kiel holen

Der amerikanische Autor Nick Dybek liefert mit seinem Debüt "Der Himmel über Green Harbour" einen düsteren und unglaublich spannenden Roman ab. Zwar flattert der Geist von Robert Louis Stevenson und seiner "Schatzinsel" zwischen den Zeilen umher, doch der tiefgründige Meeresroman verhandelt mehr als nur jugendliche Abenteuerromanik. Es geht um den Druck der Loyalität, um den innersten Drang das Richtige zu tun. Wobei der Junge Cal zu der bitteren Einsicht kommen muss, dass es selbst in der einfachen Welt des Fischerdorfs kein "richtig" oder "falsch" gibt.

Nick Dybek verwebt die Emotionen seines jungen Erzählers Cal zu einem komplexen Psychogramm und lässt uns dadurch im Dunklen der Gehemnisse tappen. Der klare und sehr bildhafte Erzählstil von "Der Himmel über Green Harbour" schlägt derart viele Haken, dass man beim Lesen zwischen Happy-End-Euphorie und dem Grauen vor der drohenden Katastrophe hin und her schwankt. Der einsame Fischerort und die wilde See werden selbst zu einem der Hauptcharaktere der Geschichte, der für die düstere und verhängnisvolle Stimmung sorgt. So wird Dybeks Debüt zu einem unglaublich dichten, tiefgründigen und nicht zuletzt nervenzerreißenden Leseerlebnis, bei dem man die salzige Gischt auf der Zunge zu schmecken glaubt. Ein atypischer und dadurch großer Wurf amerikanischer Gegenwartsliteratur.