Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Am Herz vorbei - Mitten ins Schwarze"

Sammy Khamis

Are you serious...

22. 2. 2013 - 10:34

Am Herz vorbei - Mitten ins Schwarze

Der Bankräuber, der zur Legende wurde. Die fulminante Geschichte des Amerikaners Willie Sutton - erzählt von J.R. Moehringer.

Er sah Bankraub als hohe Kunst und übte ihn mit der zielstrebigen Leidenschaft eines Künstlers aus. Er glaubte an Analyse, Planung, harte Arbeit. Aber er war auch kreativ, ein Erneuerer, und wie alle großen Künstler, erwies er sich als zäher Überlebender. - J.R. Moehringer über Willie Sutton

Willie Sutton, Protagonist im fiktiven Biographie-Roman "Knapp am Herz vorbei", lernen wir zwar als zähen, vor allem aber als alten, einfühlsamen und gebrechlichen Häftling kennen. Wir begleiten Willie, so will man Sutton von der ersten Minute an nennen, gleich zu Beginn der Geschichte durch einen entscheidenden Moment seines Lebens: Seiner, für ihn selbst überraschenden, Entlassung aus dem Hochsicherheitsgefängnis Attica im Bundesstaat New York. Willie saß hier 17 Jahre lang ein. Willie war Bankräuber. Eine wahre Legende zwischen 1920 und 1950. Im Knast sind seine Haare grau geworden, sein Gesicht ist eingefallen, er zieht ein Bein nach. Die Entlassung ist ein wegweisender Moment im Buch: es ist das erste Mal, dass Willie ein Gefängnis durch ein Tor verlässt. Die letzten drei Mal ist er ausgebrochen. Eine Legende eben. Moehringer reiht in seinem Roman zahlreiche und unglaubliche Sequenzen in Willie Suttons Leben aneinander. Wir, also die Leser, dürfen fast 450 Romanseiten mit dabei sein. Denn wir verbringen einen Tag mit dem alten Bankräuber. 24 Stunden lang sitzen wir neben ihm, auf einer Grand Tour zu seinen alten Wirkungsstätten.

J.R. Moehringer - "Knapp am Herz vorbei"; erscheint am 21. Februar bei S. Fischer, übersetzt hat es Brigitte Jakobeit, 448 Seiten

Fischer Verlage

Robin Hood aus Brooklyn

Der Rahmen des Romans ist also folgender: ein Bankräuber wird entlassen, eine Zeitung erhält die Rechte an einer Exklusiv-Story, schickt einen Reporter [genannt: Schreiber oder Kleiner] und einen Fotographen [genannt: Knipser oder Kleiner], die mit Willie am ersten Weihnachtsfeiertag 1969 durch die Straßen New Yorks fahren. Auf einem Stadtplan hat die Bankräuber-Legende Sutton die wichtigen Stationen seines "Arbeitslebens" markiert: der erste geknackte Tresor, die erste Verhaftung, die erste Flucht aus dem Knast (spektakulär), den ersten Bankraub (unerhört dreist), den zweiten Bankraub (unerhört frech), die zweite Verhaftung, die zweite Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis (spektakulär & unmöglich). Darauf folgt eine Reihe unerhört frecher, dreister und perfektionistisch durchgeführter Banküberfälle, die Willie zur Legende machen. Er wird zum Star der Zeitungen, zum Held seiner Heimat Brooklyn, zum anständigen Robin Hood, der es den verbrecherischen Banken mit gleichen Waffen heimzahlt.

unbekannt

Willie Sutton nach seiner Verhaftung 1934 in Philadelphia

In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften. [...] Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen, entwischte jahrelang Polizisten und FBI-Agenten. Er war eine Mischung aus Henry Ford und John Dillinger – mit einem Hauch von Houdini, Henry Ford und Rasputin. Die Reporter wissen alles über seine elegante Kleidung, sein schelmisches Lächeln, seine Liebe zu guten Büchern, das übermütige Schimmern in seinen strahlend blauen Augen, so blau, dass sie in den Pressemitteilungen als azurblau beschrieben wurden. Nur ein besonderer Bankräuber entlockt dem FBI solche lyrischen Worte.

Willie Sutton – Der Gandhi der Gangster

Sutton hat nie auch nur einen Schuss abfeuern müssen, er hat nie einen Angestellten verletzt oder gar getötet. Er hat sich einfach verkleidet, bspw. als Postler. So hat er vor Öffnung der Filiale an die Tür geklopft, ihm wurde selbstredend geöffnet. Mit vorgehaltener Waffe hat er höflich die Mitarbeiter abgepasst, mit Vornamen angesprochen (Teil seiner Recherche) und den Chef der Filiale gebeten den Tresor aufzuschließen. Wegen seiner schauspielerischen Fähigkeiten nannte man ihn schnell "The Actor" und weil er nicht gefasst wurde "slick Willie". So begründet sich der Mythos Willie Sutton.

Moehringer entwirft seinen Protagonisten als pathologischen Räuber, der mehr oder weniger logisch in sein Metier gezwungen wurde; Denn, wie bei so vielen großen Verbrechen, steht auch hier am Anfang eine Frau. So hübsch, so wohlhabend und so unerreichbar für den jungen und mittellosen Willie, dass er sich gezwungen sieht das Mädchen zu beeindrucken: er plant den Tresor in der Firma des Vaters zu knacken. Mit seinem besten (ebenfalls pubertierenden) Freund und einem Mädchen namens Bess Enders. Aus der Dreiecks Bonnie und Clyde-Beziehung wurden einige wilde Tage und eine erste Verurteilung. Daraus entstand eine lebenslange Sehnsucht. Nach Bess und nach Banküberfällen.

Schreiber und Knipser offenbart er auf dem Weg durch das neue, alte New York zahllose Weisheiten.

Man ist nur lebendig, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man verliebt ist. Deshalb wirken fast alle wie tot.

NYPD

Sutton nach seiner Verhaftung 1952 - seit 1945 war er bereits wieder auf freiem Fuß; Es war sein dritter und letzter Ausbruch aus einem Hochsicherheitsgefängnis

Moehringer erzählt die Geschichte Willie Suttons in klar getrennten Sequenzen. In Rückblenden wird die Zeit zwischen 1920 und 50 konkret beleuchtet. Die Jetzt-Zeit des Romans, also 1969, ist die analytische und reflektierte Sicht Suttons auf die eigene Vergangenheit. Beide Erzählstränge vereint eine empathische und einfühlsame Sprache. Dafür lässt der Autor Moehringer den Bankräuber Sutton auf der Rückbank eines umgebauten Streifenwagens, der mittlerweile der Funkwagen der Zeitung ist, über sein Leben sinnieren. Dem Bankräuber geht es bei dieser Tour vor allem um eins: Bess, seine große Liebe wiederzufinden. Die Zeitung von Schreiber und Knipser verfolgt ein anderes Ziel: Es gibt ein Kapitel im Leben Suttons, das nicht gänzlich geklärt ist.

In seinem ersten Roman "Tender Bar" schreibt J.R.Moehringer über seine Kindheit in der Bar seines Onkels auf Long Island; erschienen ist "Tender Bar" 2007 bei Fischer in der Übersetzung von Brigitte Jakobeit; 464 Seiten

S. Fischer

Sutton wurde von einem jungen Mann 1952 in der U-Bahn erkannt und verpfiffen. Wenige Tage später war der Junge, Arnie Schuster, tot. Hatte Willie den Mord in Auftrag gegeben? War er der Drahtzieher? Es ist ein letztes Geheimnis in der unbegreiflichen Geschichte Willie Suttons.

Willie Sutton - historische Persönlichkeit & Mythos

J.R. Moehringer erzählt von einer, Zeit in der Banken immer Verbrecher und Verbrecher manchmal Helden waren. Der Autor ist also nah am Puls der Zeit: Mit Bankenrettung und Immobilienblasen diskutieren wir heute vehement die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Banken. Moehringer schreibt sich eine Realität herbei, der man nur allzu gerne glauben möchte. Im Vorwort heißt es:

Dieses Buch ist meine Vermutung.
Und zugleich mein Wunsch

Die unglaublichsten Geschichten erzählt das Leben. Sagt man. Die unterhaltsamsten Roman-Biographien bringt J.R. Moehringer zu Papier. Weiß man. Zumindest wenn man "Knapp am Herz vorbei" gelesen hat.