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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

10. 2. 2013 - 15:10

Hubschraubereinsatz, süß

Der Song zum Sonntag: My Bloody Valentine - "Wonder 2"

"m b v" ist ein sehr, sehr gutes Album geworden, kein großartiges. Die über 21 Jahre, die seit Erscheinen von "Loveless", dem letzten Album und dem großen Meisterwerk von My Bloody Valentine, im Jahr 1991 vergangen sind, haben wohl nicht einmal die eisernsten Fans der Gruppe konstant mit Warten zugebracht. Dass das mehrfach versprochene, mitunter immer wieder auch schon als fast fertig angekündigte Nachfolgealbum zu einem ewig gültigen Klassiker doch noch erscheinen würde, wollte irgendwann dann kaum jemand mehr glauben.

Nicht Wenigen schien es in ihrer Heldinnen-Verehrung vielleicht auch beruhigender, wenn das Schaffen einer Band mit einem nicht mehr zu übertreffenden Meilenstein beendet würde und so nicht mehr am Denkmal gekratzt werden könnte. "Loveless", das ist schon oft gesagt worden, auch hier, ist eine perfekte Platte; die irisch/englische Band My Bloody Valentine betrieb hier eine Verschmelzung von Gitarren-Krach, süßlichster Melodie, magischem Rauschen und penibelster, über Jahre hinweg andauernder Studio-Tüftelei, die so ziemlich alle Beteiligten in den Wahnsinn treiben sollte.

Viele, viele Bands haben versucht so zu klingen wie My Bloody Valentine, kaum einer ist es sinnstiftend geglückt. Vor einigen Jahren sind My Bloody Valentine wieder aufgetaucht und konnten seither im Geiste der Retromania auch ohne neue Tonträger im Gepäck bei Konzerten große Hallen voll machen oder Headliner-Slots auf Festivals locker ausfüllen. "m b v" klingt nun auch so, als wären My Bloody Valentine nie weggewesen. Wenn man kurz davon absieht, dass die Gegenwart natürlich auch sehr oft wie vor zwanzig Jahren klingt, dann hat das Album mit der Gegenwart kaum etwas zu tun. Das ist nichts Schlechtes. My Bloody Valentine docken mit "m b v" an einem Sound an, den sie erfunden und perfektioniert haben, sie verwalten ihn souverän und denken ihn in Nuancen in neue Richtungen.

My Bloody Valentine

My Bloody Valentine

My Bloody Valentine

Schon nach einem Hördurchgang lässt sich das neun Stücke starke Album, das deutlich roher und kratzbürstiger als die geschmeidig ausgeformte Klangwolke "Loveless" daherkommt, im Geiste in drei Passagen à drei Stücke zerteilen. Das erste Trio an Songs führt vage zurück zum "klassischen" Sound von My Bloody Valentine: Verhallte und vernebelte Klanglandschaften, in denen sich ätherische Pop-Songs verbergen. Ganz großartig ist hier das Stück "Only Tomorrow" in dem sich Mastermind Kevin Shields zu einem frech eingängigen Gitarren-Solo hinreißen lässt, das man so von dieser Band noch nicht gehört hat. Auf den Stücken vier bis sechs schwenkt die Band um auf eine so kaum bekannte Klarheit, Reduktion und nun tatsächlich fast schon Pop-Singlehaftigkeit, sei es im minimalistischen Orgel-Exkurs von "Is This And Yes" oder im richtig hittigen Schunkler "New You".

Das letzte Drittel transportiert "m b v" dann aber endgültig in ungeahnte Dimension: Das Stück "In Another Way" führt Superkrach, Synthesizer, die wie Dudelsack klingen, und einen verlangsamten Drum’n’Bass-Rhythmus zu einem absonderlichen Biest zusammen. Drum’n’Bass und Rock - was sonst zwangsweise wie die übelste Musik der Welt klingen muss, funktioniert bei My Bloody Valentine - nicht zuletzt, weil die Band ihr Aufsaugen von Elementen von elektronischer Tanzmusik eben nicht allzu stolz zur Schau stellt, sondern die Beats vergleichsweise schwammig und betont unaufregend hinter den dichten Gesamtklang mischt. Darüber liegt eine esoterisch und new-age-haft eiernde Orgel.

Das vorletzte Stück "Nothing Is" ist nichts als ein instrumental gehaltenes, ewig monoton und repetitiv vor sich hin polterndes Stück Beat- und Gitarren-Attacke, wie aus einem Track von Atari Teenage Riot herausgesamplet. Für sich genommen ist dieses Stück wahrlich keine große Kunst, im Album-Zusammenhang sitzt es jedoch genau an der richtigen Stelle, sorgt gleichermaßen für unangenehme Anspannung wie für einen Moment des Durchatmens - und dient als Vorbereitung auf ein Stück Musik und Klangskulptur, das "m b v" noch einen späten glorreichen Höhepunkt bereitet.

Im finalen Song "Wonder 2" kulminiert so ziemlich alles, was My Bloody Valentine so wunderbar macht und mehr. My Bloody Valentine scheinen hier jeden zu Verfügung stehenden Millimeter Tonband mit Sound, Noise und seltsamen Düften zugekleistert zu haben. "Wonder 2" klingt so, als wäre es im Windkanal aufgenommen worden, im Innersten einer Flugzeugturbine, beim Angriff einer Helikopter-Armada. Durch dieses Gewitter ziehen sich verhuschte und verzaubernde Gesänge, die kaum einem menschlichen Wesen zuzuordnen sind, es schälen sich immer neue komische Melodien und außerweltliche Sounds aus dem Getöse.

Am Ende steht man verdutzt da und weiß nicht, ob man gerade eine neues Universum gehört hat. "Wonder 2" scheint "m b v" auch nicht endgültig abzuschließen, sondern es verlässt die Platte am Gipfel und lässt die Hörerin und den Hörer in einem Zustand der Unruhe und der seelischen Zerrüttung zurück, in einem seltsamen Glücksgefühl und in höchster Neugierde. Man kann nicht anders, als dieses Stück, diese Platte noch einmal zu hören.