Erstellt am: 7. 2. 2013 - 19:51 Uhr
Androgyne Wesen
Akribisch genau zählt sie jede Kalorie: "Ich kenne die Kalorienzahl jedes Lebensmittels. Ich berechne alles. Jedes bisschen, das über meine Lippen geht, ist aufs Gramm abgewogen… ich habe alles unter Kontrolle. Die Disziplin zahlt sich aus: Ich nehme nicht zu. Ich wiege genauso viel wie mit zwölf Jahren."
caillou/carlsen
So schaut die namenlose junge Frau auch aus – wie eine Zwölfjährige. Ein androgyner Körper, völlig abgemagert. Dennoch glaubt sie viel zu dick zu sein. Lernt sie bei einer Party jemanden kennen und kommt es gar zu einem potentiellen Onenightstand, kann sie sich unmöglich nackt zeigen. In ihrer Verzweiflung isst sie Massen - um die umgehend wieder raus zu kotzen.
caillou/carlsen
Zum Kotzen findet sie auch alle Leute, die sich nicht um ihren Körper kümmern. Allen voran ihre Mutter.
Eines Tages trifft sie im Wartezimmer ihres Therapeuten auf einen jungen Mann. Ein magersüchtiger Kunststudent. Die beiden verstehen sich sofort prächtig, glauben, das ideale Paar zu bilden und ziehen zusammen.
Der Therapeut rät ihnen davon ab und - so viel darf vorweggenommen werden - er wird Recht behalten.
caillou/carlsen
"Luft und Liebe" wurde von den beiden Franzosen Hubert und Marie Caillou geschaffen. Die beiden kennen das Thema aus erster Hand – beide waren sie früher magersüchtig. Eines aber ist dem Autor Hubert wichtig: "It is not a biographic book – it is fiction with personal material." Es gäbe also eine gewisse Distanz zu der Geschichte und zu dem Thema, das in Frankreich nach wie vor tabuisiert wird. Denn gerade in Frankreich wird viel Wert auf Essen gelegt. In seiner Familie drehe sich vieles um das Essen, erzählt Hubert. "People don't say 'I love you'. People make food. And if you eat, everything is okay." Wenn man aber nicht mehr isst, hat man Probleme. Große Probleme.
caillou/carlsen
Hubert erzählt im Interview ganz offen von seiner Magersucht. Damals glaubte er, der einzige magersüchtige Mann zu sein. Mit großem Erstaunen hat er nach der Veröffentlichung des Comics wahrgenommen, wie viele Männer, gerade auch in seiner Umgebung, davon betroffen sind.
Er selbst sei mit Anfang zwanzig krank geworden. Fast zehn Jahre habe er sich nicht um seinen Körper gekümmert, habe ihn weggeworfen. "Your body does not exist. You should not feel anything with your body. Your body is completely rejected." Es gehe vielmehr um Kontrolle. Alles passiere im Denken.
Dieses verschobene Wahrnehmen erzählt Hubert gekonnt in der Graphic Novel "Luft und Liebe". Im Original heißt das Buch "La Chair de L’Araignée", was so viel heißt wie "das Fleisch der Spinne". Auch wenn Spinnen üblicherweise nicht besonders viel Fleisch haben, so scheint der deutsche Titel treffender.
caillou/carlsen
Besonders viel Fleisch ist auch nicht an den beiden namenlosen Protagonisten. Marie Caillou hat zwei androgyne Wesen gezeichnet, die sehr zerbrechlich wirken. Die Illustratorin reduziert sich auf wenige Farben. Diese wirken zart und gedämpft und lassen so "Luft und Liebe" zu einer stimmigen gleichzeitig verstörenden Geschichte werden. Nach einem Happy End sucht man vergeblich.
Er wollte nicht sagen, dass alles gut wird, erklärt Hubert im Interview. "It is about playing with death. Sometimes you can go away, but it will always be inside of you." Jederzeit könne eine Krise die Essstörung wieder auslösen. Das Ganze sei eine Struktur. "This way of thinking and feeling is never away."
Special for Ladies Edition
"Luft und Liebe" ist einer der drei Bände, die in der "Special for Ladies Edition" erschienen sind.
Carlsen will damit direkt Frauen ansprechen, schließlich gibt es in Frankreich oder Japan auch Comics für Frauen. Unter dem Slogan "Frauen lesen anders" haben sie die Bücher in ein "handtaschentaugliches" Format gebracht, soft gebunden und mit einem Gummibändchen versehen. In dem Format lesen aber auch Männer gerne, die Bücher auch in Taschen transportieren und dort auch gern ein Gummibändchen hätten. Allerdings eines, das nicht nach dem ersten Transport schon reißt. Was da also besonders für Frauen sein soll ist mir unklar.
carlsen verlag
"Frauen gucken andere Bilder an und interessieren sich für andere Inhalte," erklärt Sabine Witkowski vom Carlsen Verlag. Daher wollten sie etwas für Frauen machen, das sonst in ihrem Programm nie eine Chance gehabt hätte. Komische, tragische und sozialrelevante Titel seien angedacht. Letzteres trifft zumindest auf "Luft und Liebe" zu. Dennoch äußerst schade, dass dieser Graphic Novel der Sticker "Special for Ladies Edition" aufgeklebt wurde. Schließlich zeigt die Geschichte ja, dass auch Männer betroffen sind.
Bei den anderen zwei Bänden dieser Reihe hätte man sich den Sticker auch sparen können. Das Cover alleine macht da schon deutlich, dass Frauen angesprochen werden sollen.
In "Paris" von Maarten Vande Viele versuchen drei junge Frauen im Modebusiness in Paris Fuß zu fassen. Alle drei wollen sie berühmt werden. Needless to say, dass da viel Sex, Drogen und Betrügereien vorkommen. Fehlt nur, dass auch bei den Vergewaltigungen in einer Fußnote dabei steht, welche Designerkleidchen die Frau vorher trug.
"Nichts für kleine Kinder" kichern die Ladies aus dem Verlag.
In "Ich wär so gerne Ethnologin" erzählt Margaux Motin von ihrem Alltag: Mitdreißigerin, Schuhfetischistin, Mutter und Illustratorin. In der Reihenfolge scheinen auch die Prioritäten gesetzt.
So weit so gähn.
Wer anspruchslose Chickliterature mag, wird wohl auch an den beiden Bänden ihre oder seine Freude finden.
Ansonsten halte ich von diesem Etikett wenig: gute Graphic Novels werden von Männern und Frauen gelesen. Und u.a. hier vorgestellt: fm4.orf.at/comic.