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19. 1. 2013 - 13:26

Musketen, Schnauzbärte und Allgemeine Wehrpflicht

"Mount and Blade: Napoleonic Wars" und eine historisch-philosophische Analyse zur Wehrpflicht-Debatte.

von Hans Wu

"Mount and Blade: Napoleonic Wars" ist eigentlich ein Add-On zu dem ehemaligen Indie-Spiel Mount and Blade. Ursprünglich als freies Communityprojekt mit dem Titel "Mount and Musket" entwickelt, ist es seit April 2012 als kommerzieller Download erhältlich. Das verantwortliche Entwicklerstudio Flying Squirrel Entertainment arbeitet zurzeit an einem eigenständigen Spiel und widmet sich dabei einem etwas aktuelleren Thema: Der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861-1865.

Es ist die Antithese zu "Modern Warfare". Und nach allen einschlägigen Regeln der Vermarktung sollte dieses Computerspiel eigentlich ein Ladenhüter sein: Veraltete Grafik, umständliche Spielweise und ein Thema, das eigentlich fast niemanden interessiert. "Mount and Blade: Napoleonic Wars" ist ein Ego-Shooter, in dem Ego und schnelles Schießen eigentlich untergeordnete Rollen spielen. Die Spielfigur ist ein Soldat des frühen 19. Jahrhunderts und wird dabei mit allen Gegebenheiten des Napoleon-zeitlichen Kriegshandwerks konfrontiert.

Die virtuelle Muskete braucht zum Laden zwanzig Sekunden, eine unsägliche Ewigkeit in der schnellbewegten Welt der Ballerspiele. Zumeist erweist sich die langwierige Vorbereitung dann auch noch als vergebene Liebesmüh, da der Schuss dann doch zumeist ins Leere verpufft, ohne jemals in die Nähe des Ziels gekommen zu sein.

Tatsächlich bestand in einigen europäischen Armeen des 19. Jahrhunderts die Pflicht zum Schnurrbart. In den amerikanischen Armeen des Bürgerkriegs war der Wildwuchs an unterschiedlichen Bartkreationen eher ein Diktat der damaligen Mode. Berühmt geworden sind die "Sideburns", ein mächtiger Schnauzer in direkter Verbindung mit breiten Koteletten. Benannt wurden sie nach dem US-General Ambrose Burnside. In der österreichischen k. k. Armee wurde die Schnurrbartpflicht 1869 abgeschafft.

Treffsicherheit ist hier ein sehr weit gefasster Begriff. Die beschränkten Möglichkeiten der simulierten Vorderlader haben auch neue Formen des Online-Teamplays geschaffen. Spieler treten virtuellen Regimentern bei, unterordnen sich dabei militärischen Rängen und Regeln, und manchmal ist historisch akkurat auch ein Schnurrbart verpflichtend zu tragen. Gemeinsam wird dann in geschlossener Linienformation exerziert, marschiert und geschossen. So wie es eben zur Zeiten des alten Bonaparte üblich war.

"Geschichte erleben", das hat sich wohl mancher Geschichtslehrer anders vorgestellt. Der interaktive Anschauungsunterricht zum Thema veraltetes Kriegshandwerk findet durchaus seine Rekruten. Mehr als 200.000 mal hat sich der spielerische Anachronismus schon verkauft.

Soldat lädt Kanone

Mount and Blade: Napoleonic Wars, Flying Squirrel Entertainment

Der Beginn der Allgemeinen Wehrpflicht

Im Bürgerkrieg in der Vendée kämpften der königstreue lokale Adel und katholisch-traditionelle Kleinbauern von 1793 und 1796 gegen die Französische Republik. Die Bewertung des Konflikts ist bis heute ein hochumstrittenes Thema unter Historikern und französischen Politikern. Kontrovers diskutiert wird vor allem die Zulässigkeit des Begriffs Genozid für die blutigen Ausschreitungen der Republik gegen die Zivilbevölkerung.

Ein beachtlicher Erfolg für Computerspiel, in dem zweihundert Jahre alte Begebenheiten nachgespielt werden. Und somit schlagen wir den schwierigen Bogen zum großen innenpolitischen Thema der letzten Wochen. Die Spielhandlung rekapituliert die Zeit, in der die ersten Formen der Allgemeinen Wehrpflicht entstanden sind. Die junge Französische Republik führte 1793 die Levée en masse, die erste Massenverpflichtung zum Kriegsdienst durch und wappnete sich dadurch erfolgreich gegen die Interventionen der feindlichen Monarchien. Napoleon schöpfte später aus diesem neuerschaffenen Reservoir an Bürgersoldaten Menschenmaterial für seine Feldzüge. Die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in anderen europäischen Ländern war zumeist eine Reaktion auf die Expansionsgelüste des korsischen Kriegsherrn.

Die republikanischen Ursprünge des Volksheeres werden dieser Tage sehr gerne von Wehrpflichtbefürwortern ins Spiel gebracht. Tatsächlich waren in den Monarchien von Preußen und Österreich die ersten Verfassungen, die die Basis der späteren Republiken bildete, das "Gegengeschäft" für die endgültige Einrichtung der Allgemeinen Wehrpflicht. Gerne wird in der Diskussion auch das Bürgerkriegsargument ins Spiel gebracht: Ein Berufsheer beinhalte immer ein demokratiebedrohendes Potential, eine Armee aus Bürgern dagegen, würde nie auf andere Bürger schießen. Das ist bei genauer historischer Betrachtung nicht ganz zutreffend. Einer der ersten militärischen Aktionen der jungen Wehrpflichtigen-Armee der frühfranzösischen Republik war die Niederschlagung von Aufständen in der Provinz Vendée. Hier schossen sehr wohl Bürgersoldaten auf ihre Mitbürger, genauer gesagt wurden dabei vor allem rebellierende Kleinbauern massakriert. Nur ein Beispiel von vielen, in denen ein Heer von Wehrpflichtigen erfolgreich gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurde.

Die Verbindung von Wehrpflicht und Demokratie war immer eine ambivalente Geschichte. Hinter dem Fahnenmotto von "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" hatte die Übung durchaus einen weiteren Zweck: die grenzenlose Mobilisierung von Kanonenfutter für die Staatsmacht, die Ausweitung der Kampfzone auf den gesamten Gesellschaftskörper.

Der Drill der Disziplinargesellschaft

Schon vor der französischen Revolution, lange vor der ersten Levée en masse, bildete die Organisation von Menschenmassen zusammen mit Feuerwaffen und Disziplinartechniken das überlegene Waffensystem, das Ritter und Langbogenschützen, die Kriegsprofis des Mittelalters, von den neuzeitlichen Schlachtfeldern verdrängte. Mit der Allgemeinen Wehrpflicht wurde dann die gesamte Bevölkerung in die Kriegsmaschine eingebunden. Der waffentragende "Citoyen" sollte die Souveränität des Volkes im Staat garantieren, und doch konnten kein demokratischer Grundsatz und kein republikanisches Ideal die tiefergreifende Konsequenz der militärischen Machtmechanik im Bann zu halten.

"Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses"war eines der wichtigsten Werke des französischen Poststrukturalisten Michel Foucault (1926-1984). Vordergründig eine Untersuchung des modernen Gefängnisses, ist darüber hinaus die Veränderung der Machtausübung in den letzten Jahrhunderten ein Hauptthema des Buches. Eine wichtige Rolle spielen dabei Disziplinartechniken, die unter anderem beim Militär des 18. und 19. Jahrhunderts perfektioniert wurden. Subtile und vielschichtige Machtmechanismen durchwirken nach Foucault die moderne Gesellschaft und die Individuen, durch die sie gebildet wird.

"Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine 'politische Anatomie', die auch eine 'Mechanik der Macht' ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper.", schreibt der französische Philosoph Michel Foucault in seinem Buch "Überwachen und Strafen", in dem er neben Gefängnis, Schule und Fabrik auch das Militär als einer der Plätze benennt, in denen ab dem 17. Jahrhundert Disziplinartechniken entwickelt worden sind, die über die Institutionen hinaus wirkten. Der Drill, die Formationen und die Normen der Musketenheere disziplinierten über die Armee hinaus das ganze Gebilde der Gesellschaft.

Soldaten schießen

Mount and Blade: Napoleonic Wars, Flying Squirrel Entertainment

Wehrpflicht oder Berufsheer? Ein virtuelles Geplänkel?

Über zweihundert Jahre hat die Allgemeine Wehrpflicht jetzt schon auf dem Buckel. Über zweihundert Jahre, in denen die Weltgeschichte viele traumatische Entwicklungen erleben musste. Das verpflichtende Volksaufgebot war nicht nur eine Vorrausetzung früher Republiken, sie schaffte auch die Möglichkeit zur Militarisierung ganzer Gesellschaften. Totalitäre Regimes wurden durch die Wehrpflicht nicht verhindert, sondern waren wesentlicher Bestandteil von Kontrolle und Disziplinierung. Durch die fortgeschrittene Tötungstechnologie der beiden Weltkriege wurde der massenhaft eingezogene "Bürger in Uniform" endgültig zum Verschleißmaterial der militärischen Machtmechanik. Die militärischen Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zunehmend wieder eine Angelegenheit der Spezialisten.

Das Kriegshandwerk der Gegenwart hat sich mittlerweile weit von dem Drill der Linienformationen des Napoleonischen Zeitalters entfernt. Die aktuellen Konflikte zeigen Schauplätze, an denen Drohnen und IEDs das Geschehen zu bestimmen scheinen. Die ehemalige kriegswichtige Ressource Mensch wird zumindest in ihrer quantitativen Dimension von der Technologie in den Hintergrund gedrängt. So gesehen verwundert es nicht, dass im aktuellen politischen Zank um die Zukunft des Bundesheeres von beiden Seiten hauptsächlich nichtmilitärische Argumente ins Feld geführt werden: Es geht um Katastrophenschutz, Soziale Dienste, Integration, volkswirtschaftliche Kennzahlen oder um gesunde Ernährung.

Und natürlich ist auch beim virtuellen Online-Geplänkel von "Mount and Blade: Napoleonic Wars" die Frage, ob Wehrpflicht oder Berufsheer, kein Thema der spielerischen Unernsthaftigkeit. Denn wer von den hauptsächlich jugendlichen Spielern würde in Real Life tatsächlich verpflichtend Schnauzbart tragen wollen?