Erstellt am: 2. 2. 2013 - 16:14 Uhr
"Wir wollen, was ihr habt!"
"Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt", ist der Titel des Sachbuchs von John Lanchester, das er bereits 2010 geschrieben hat und das im März auf Deutsch erscheinen wird. Darin erklärt er die Gründe und Hintergründe der Finanzkrise. Nach diesem Sachbuch hat er einen Roman zur Finanzkrise geschrieben. Einen äußerst gelungenen.
"Kapital" lautet der simple, schlaue Titel. Schließlich beinhaltet er beides: Geld und die Hauptstadt (engl. "capital"). Und das ist auch schon die knappste Inhaltsangabe: Mehrere Leute wollen in London ihr Kapital vermehren.
*Anm.: Samuel Pepys war einer der bedeutendsten Chronisten Londons, der mit seinem akribischen Tagebuch ungeschönte Einblicke in das Londoner Alltagsleben des 17. Jahrhunderts gibt. (pepysdiary.com)
Lanchester siedelt den Roman im Süden Londons an – in der fiktiven Pepys Road*. Eine entzückende Straße, von viktorianischen Backsteinhäusern gesäumt. Ursprünglich waren die Häuser für Familien der unteren Mittelschicht gebaut, im Laufe der Zeit kam es zu einem demographischen Wandel - nach dem Krieg etwa zogen etliche Familien aus der Karibik zu. Um die Jahrtausendwende blühte die Gentrifizierung und die Immobilienblase wuchs, die Mieten stiegen und etliche Beschäftigte der Finanzwelt zogen in diese Straße. Und mit ihnen viel Geld.
"Wenn man ein Haus in der Pepys Road besaß, dann war das so, als befände man sich in einem Spielkasino mit Gewinngarantie. Wohnte man bereits dort, war man reich. Wollte man dort hinziehen, musste man reich sein. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass dies der Fall war. Großbritannien war zu einem Land von Gewinnern und Verlieren geworden, und alle Menschen in dieser Straße hatten allein durch die Tatsache, dass sie dort wohnten, gewonnen."
Wo viel gewonnen wird, ist der Neid nicht weit. Und eines Tages empfängt jeder Haushalt eine Postkarte – auf der Vorderseite das jeweilige Haus – auf der Hinterseite ein Satz: "Wir wollen, was ihr habt!"
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Eine Botschaft, die noch des öfteren die BewohnerInnen der Straße verunsichern soll. Bis aufgeklärt ist, was und wer hinter diesem Satz steckt, erzählt Lanchester vom Alltag einiger BewohnerInnen und zeichnet so ein breites Gesellschaftsbild.
Der Bogen spannt sich von der ältesten Bewohnerin der Straße, der reizenden Petunia Howe, die bereits als Kind in der Straße gewohnt hat, zum eben erst hinzugezogenen Fußballstar Freddy Kamo, ein afrikanisches Jahrhunderttalent, das um mehrere Millionen gekauft wurde.
Dazwischen führt die pakistanische Familie Kamal einen kleinen Laden und die Familie des Bankers Roger Yount ein luxuriöses Leben. Und dann gibt es noch einige Leute, die in der Straße arbeiten: Matya, das ungarische Kindermädchen, der polnische Bauarbeiter Zbigniew oder die Politesse Quentina.
Allen gemein ist ihre Sehnsucht nach einem glücklichen Leben, manche finden das vermeintlich nur im Reichtum.
Lanchester gelingt es, die multikulturelle Großstadtgesellschaft abzulichten. Verständlich zeigt er die Folgen von Gentrifizierung auf und beschreibt die Kluft zwischen Arm und Reich, ohne dabei wertend zu werden.
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Das geht so weit, dass man fast mitzittert, ob denn der Banker Roger Yount seinen Jahresbonus von 1.000.000 Pfund bekommt. Ohne diesen würde er vor dem Bankrott stehen. Schließlich muss das Luxusleben seiner Frau Arabella irgendwie finanziert werden.
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John Lanchester erzählt das Leben in der Pepys Road von Dezember 2007 bis November 2008. Es ist das Jahr, in dem die Immobilienblase geplatzt ist. Und auch einige andere Träume - zumindest in seinem großartigen Gegenwartsroman "Kapital".