Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "1913"

Zita Bereuter

Gestalten und Gestaltung. Büchereien und andere Sammelsurien.

19. 1. 2013 - 14:56

1913

Der Kunsthistoriker und Journalist Florian Illies lässt das aufregende Leben im letzten Friedensjahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufleben. Spannung, Sehnsucht, Kummer und Träume von Kafka, Klimt, Kokoschka und weiteren Zeitgenossen.

1913 - ein Jahr, das an kulturellen Entwicklungen und Ereignissen heraussticht wie kaum ein anderes:
Bei Gustav Klimt und Egon Schiele stehen die Nacktmodelle Schlange, während der eifersüchtige Oskar Kokoschka ein Meisterwerk schaffen muss, damit ihn Alma Mahler heiratet. In München werkt Kandinsky, in Holland Mondrian an der Abstraktion. Picasso ist bereits ein gefeierter Star. Marcel Duchamp macht in Paris das erste Ready-made und Malewitsch läutet in Moskau mit dem Schwarzen Quadrat den Futurismus ein - während Hitler in Wien kleine Aquarelle vom Stephansdom malt.

buchcover 1913 altes farbfoto menschen auf sommerwiese

s fischer verlag

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, S. Fischer 2012

Robert Musil schreibt am "Mann ohne Eigenschaften", James Joyce an der "Ulysses" und Marcel Proust an "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Oberst Redl wird der Spionage überführt und die gestohlene Mona Lisa wird in Italien wiedergefunden. Georg Trakl, der aus Sehnsucht nach seiner Schwester fast durchdreht, urlaubt gemeinsam mit Peter Altenberg, Adolf Loos, Arthur Schnitzler und anderen in Venedig. Max Beckmann schreibt in sein Tagebuch: "Der Mensch ist und bleibt doch ein Schwein erster Klasse."

Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn leiden an Liebeskummer, Kafka sowieso und der außerdem an Neurasthenie - einer Art Burn-Out von 1913. Sigmund Freud und C.G. Jung fiebern dem unausweichlichen Treffen in München entgegen. Die erste Ausgabe von "Vanity Fair" erscheint, Prada eröffnet den ersten Shop in Mailand und in Essen startet der Prototyp von Aldi. In Berlin leuchten die Reklameschilder und Gaslaternen so hell, dass die Sternwarte beim Halleschen Tor abgerissen und in Babelsberg neu gebaut werden muss.

Florian Illies Portrait

S. Fischer Verlag

Florian Illies hat Kunstgeschichte studiert, ist Autor (u.a. Generation Golf - mit Teil zwei) und Journalist (u.a. Ressorleiter Feuilleton "Die Zeit")

Dass all das 1913 geschehen ist, ist natürlich nicht Florian Illies Verdienst. Sein Erfolg ist hingegen die gekonnte Auswahl dieser Momentaufnahmen, seine Recherchen anhand von Briefen, Notizen und Tagebucheinträgen und das Arrangieren und Anordnen der Begebenheiten. Die Auswahl ist sehr subjektiv und man erkennt in Illies den Kunsthistoriker, der auch Partner eines Berliner Auktionshauses mit Schwerpunkt Kunst des 19. Jahrhunderts ist, den Mitgründer und Herausgeber des Kunstmagazins "Monopol" und vor allem den Feuilletonisten. Illies erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit - seine Auswahl ist gut.

Mit kurzen Episoden rekonstruiert er 1913 als ein Jahr voller Spannung, Sehnsucht, Träume, Hoffnungen und Ahnungen. Und merkwürdiger Begebenheiten: So spazieren im Jänner zwei Männer im verschneiten Schönbrunner Schlossgarten. Vielleicht sind sie sich begegnet, haben sich unbekannterweise zugenickt. Sie kennen sich nicht. Jahre später kennt man die Männer weltweit: Stalin und Hitler.

"Selbst als Hitler und Stalin 1939 ihren verhängnisvollen 'Pakt' schlossen, sind sie sich nie begegnet. Sie waren sich also nie näher als an einem dieser bitterkalten Januarnachmittage im Park von Schloss Schönbrunn", folgert Florian Illies und springt in diesem Jahreslogbuch direkt zum nächsten kurzen Eintrag: "Die Droge Ecstasy wurde erstmals synthetisiert, das ganze Jahr 1913 über läuft der Patentantrag. Dann aber gerät sie für einige Jahrzehnte in Vergessenheit." Mehr hat Ilies dazu nicht zu erwähnen. Weiter erzählt er von Rainer Maria Rilke. Der überwintert im sonnigen Südspanien, schreibt wöchentlich brav an seine Mutter und sehnsüchtig anderen Frauen.

Florian Illies spielt mit diesen unterschiedlichsten Versatzstücken und rekonstruiert chronologisch das Jahr 1913.

Weitere Literaturempfehlungen

Etwas überflüssig sind die Anreden an die LeserInnen und seine persönlichen Bemerkungen wie "Na dann", besonders, wenn er witzig sein will: "mehr Uff als Uffizien" oder "Ernst Jünger war also schon nüchtern, als ihn alle anderen noch nicht einmal für voll nahmen."
Auch wird der Superlativ etwas zu sehr bedient - Freud sitzt in der "schon seinerzeit berühmtesten Adresse Wiens", Robert Musils "Schuhe sind die glänzendsten aller Wiener Kaffeehäuser". Manche Erklärungen sind ganz einfach zu viel: "Heute Abend hat seine 'Fiorenza' Berliner Premiere in Berlin."

Dennoch - Florian Illies ist ein grandioses Buch geglückt.
So soll Geschichte erzählt werden.
So würde man das gern noch öfter lesen.