Erstellt am: 24. 1. 2013 - 14:30 Uhr
Das rote Fahrrad
13. Februar 1944: Jetzt bin ich 13, an einem 13. und freitags geboren. Ági ist ja sehr abergläubisch, aber es ist ihr peinlich. Mein erster Geburtstag, an dem Ági nicht da ist!
So beginnt Eva Heymanns Tagebuch, das ein Schlaglicht auf ein paar Lebensmonate von Februar bis Mai 1944 wirft. Ági, das ist Evas Mutter Agnes Zsolt, die von Evas Vater geschieden ist und im weit entfernten Budapest mit dem Verleger Bela Zsolt zusammenlebt. Eva ist bei den Großeltern in Nagyvárad (im heutigen Rumänien) geblieben, wo sie zur Schule geht. Am Beginn der Aufzeichnungen führt sie ein bürgerliches Gymnasiastinnen-Leben, Geburtstagstee, Fahrradausflüge und Fotografieren als Hobby inklusive.
http://beyondthegoblincity.tumblr.com/post/16961320967/annefrank-dk-eva-heyman-was-born-in-nagyvarad
14. Februar 1944
Papa hat mir versprochen, dass ich Ende des Jahres eine Magnesium-Blitzlampe bekomme, damit kann ich dann auch im Zimmer fotografieren. Ich habe schon sehr schöne Bilder aufgenommen, auch eins von Anni. Aber ihr hat das Foto nicht gefallen, sie sagte, ich könne gar nicht fotografieren. Das stimmt nicht, und ich werde es noch besser lernen, wenn ich erst, wie Papa, ein Zeiss-Ikon habe und vielleicht schon selbst entwickelt kann.
Denn Evas großes Ziel - zum Teil wohl auch angeregt durch ihre Mutter Ági - ist es, Fotoreporterin zu werden, um die Welt zu reisen und einen Engländer zu heiraten.
Nazi-Einmarsch
Agnes Zsolt "Das rote Fahrrad" ist 2012 im Nischen-Verlag in Wien erschienen.
Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner. Mit der Einleitung der Mutter (aus dem Jahr 1947) und einem Nachwort von Gábor Murányi.
Das bürgerliche Leben und die Zukunftsträume von Eva finden ein jähes Ende, als deutsche Truppen auf dem Rückzug aus der Sowjetunion 1944 Ungarn besetzen. Eva und ihre Familie zunehmend den Repressalien der Nazis gegen JüdInnen ausgesetzt: Zunächst muss Bett- und Tischwäsche abgegeben werden, immer mehr jüdische Familien werden aus ihren Häusern delogiert, ab 1. April müssen alle JüdInnen den gelben Stern tragen. Am 7. April schließlich wir Evas rotes Fahrrad von zwei Polizisten abgeholt. Sie tobt und protestiert gegen die Abholung:
Einer der Polizisten hat sich furchtbar aufgeregt. Das fehlte gerade noch, dass dieses närrische Judenmädchen ihm wegen dem Rad so einen Zirkus macht. Ihr Juden habt lange genug alles gehabt und unsere Soldaten müssen an der Front hungern und frieren. Du kannst dir denken, liebes Tagebuch, wie mir zumute war, als der Polizist mir das ins Gesicht sagte. So etwas hat bisher nur in den deutschen Zeitungen gestanden oder war im Radio zu hören. Es ist schon etwas anderes, wenn dir jemand das so direkt sagt. Und gerade dann, wenn er dir dein Fahrrad wegnimmt. Glaubt dieser freche Mensch vielleicht, wir hätten das Fahrrad gestohlen? Wir haben es doch für viel Geld bei Hoffmann gekauft, und alle, Großvater und die anderen, mussten für das Geld, das sie mir gegeben haben, fest arbeiten.
Nischen Verlag
Sukzessive wird den JüdInnen in Nagyvárad ihr Besitz weggenommen und ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Schließlich wird die gesamte jüdische Bevölkerung am 5. Mai 1944 in ein Ghetto umgesiedelt. Dort leben bis zu 16 Menschen in einem Zimmer, die Männer werden zum Arbeitsdienst eingezogen, Menschen in der angrenzenden Dreher-Brauerei verhört und gefoltert, um aus ihnen herauszuquetschen, wo sich noch letzte Wertsachen deponiert haben könnten. Evas Tagebuch endet mit dem 30. Mai 1944, als die Ghetto-BewohnerInnen die Nachricht erhalten, dass sie nach Polen deportiert werden sollen.
Aber ich will nicht nach Polen, ich will doch nicht sterben, liebes Tagebuch. Ich möchte auch dann noch leben, wenn ich im ganzen Bezirk alleine zurück bleibe. In einem Keller, auf irgendeinem Dachboden, sogar in einem Erdloch würde ich mich verkriechen, bis der Krieg zu Ende ist. Jetzt sehe ich gerade, dass der nette Gendarm unsere Mariska durchgelassen hat, ich kann nicht weiterschreiben, mein Tagebuch, die Tränen verschmieren alles, ich muss zu unserer Mariska…
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Das angeblich echte Tagebuch
Mariska, das nichtjüdische Hausmädchen der Familie, wird Evas Tagebuch bis nach dem Krieg aufheben und es später Evas Mutter Agnes übergeben. Eva selbst überlebt nicht, sie wird nach Auschwitz deportiert und dort am 17. Oktober 1944 ermordet.
Evas Mutter Agnes und ihr Mann Bela Zsolt können sich vor den Nazis in die Schweiz retten. Agnes Zsolt wird sich später nicht verzeihen können, dass sie ihr Leben und das Leben ihres Mannes dem Zusammenbleiben mit ihrem Kind vorgezogen hat, sie erkrankt psychisch und tötet sich schließlich 1951 selbst.
Evas Tagebuch bringt sie 1947/48 unter dem Titel "Éva Iányom" – "Meine Tochter Eva" heraus. Von Anfang an wird bezweifelt, ob und wie viel von diesem Tagebuch tatsächlich von der 13-Jährigen Eva stammt. Denn außer Mariska, Agnes und Bela Zsolt hat niemand das Original-Tagebuch gelesen oder überhaupt je gesehen.
Es gibt Theorien, nach denen die Mutter Agnes das Tagebuch komplett selbst geschrieben hat, um so ihre verlorene Tochter wieder zum Leben zu erwecken und sich gleichzeitig ihren eigenen Schuldgefühlen zu stellen. Andere gehen davon aus, dass Agnes Zsolt das Tagebuch zumindest stark redigiert hat und dass sie kritische Anmerkungen Evas über ein Im-Stich-Lassen durch ihre Mutter gestrichen oder stark verändert hat. Es sind Formulierungen wie „Es stimmt, sagt sie, dass ich ein Kind von geschiedenen Eltern bin, aber ich habe doch bei den Großeltern ein schönes Zuhause und meinen Papa sehe ich jeden zweiten Tag“ die sehr nach nachträglicher Veränderung klingen. Oder auch ganze Passagen, in denen nacherzählt wird, wie Ági diese oder jene politische Strömung der Zeit erklärt hat, klingen eher nach wohlmeinender Mutter, als nach den Gedanken einer Dreizehnjährigen.
Nichtsdestotrotz ist das Tagebuch ein wichtiges Zeitdokument. Es zeigt, wie die Nazis es innerhalb weniger Monate durchziehen, der jüdischen Bevölkerung einer ganzen Stadt ihr Hab und Gut und sämtliche Freiheiten zu nehmen, aber auch wie reibungslos und unter Mitwirkung der übrigen Bevölkerung das abgelaufen ist. Aus der subjektiven Sicht einer Dreizehnjährigen (wenn vielleicht auch einer fiktiven), ist das beklemmender, als jedes nüchterne Geschichtswerk.