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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

12. 1. 2013 - 13:59

Charme des Verfalls gegen Vollglanz-Image

David Bowie und das alte Westberlin machen einen Aufstand gegen den neuen Flughafen und die Effizienz.

0,1 Sonnenstunden zählte das meteorologische Institut Berlin in diesem Jahr, ganze 6 Minuten schien die Sonne seit Silvester über Berlin - so grau in grau war die Stadt schon lange nicht mehr. Dazu fällt ein feiner Nieselregen vom Himmel, man könnte glatt depressiv werden, wenn man es nicht sowieso schon wär.

Auch das politische Berlin liegt am Boden. Schuld ist wieder einmal dieser vermaledeite Großflughafen, der wird und wird nicht fertig, bleibt eine Baustelle des Grauens. Es ist wohl so viel schief gegangen, dass man erst in einem halben Jahr eventuell sagen kann, wann er eröffnet wird, Optimisten sprechen vom Jahr 2014 aber auch 2017 war schon im Gespräch.

Wie wir bereits berichteten ist vielen Berlinern, auch den Vielfliegern, die erneute Verschiebung herzlich egal, manchen sogar lieb, weil der alte Flughafen näher am Zentrum liegt.

Glaubt man aber der bürgerlichen Presse, ist die erneute Verschiebung für die Berliner eine Schmach, eine persönliche Schande, die ganze Welt lacht über Berlin, heißt es.

Der Berliner Bürgermeister Wowereit vor dem neuen Berliner Flughafen

EPA/Patrick Pleul

Bürgermeister Wowereit hat einiges verschleppt in der Sache und soll nun, so fordert die Opposition, nach dem er seinen Posten im Aufsichtsrat geräumt hat auch als Bürgermeister zurück treten. Das will er nicht, weil er nach eigenem Bekunden nun Verantwortung übernehmen will. Und wenn auch Wowereit einiges von dem Sunnyboy-Image des schwulen Partybürgermeisters eingebüßt hat, was Besseres, das weiß man aus Politik und Privatleben, kommt ja selten nach.

Aber warum grämen sich die Berliner so über die Flughafen – Schmach?
Berlin hat sich sehr verändert seit den Achtzigern und seine Bewohner auch, inzwischen wollen sich wohl die Berliner Bürger
mit diesem glänzenden, tollen, hippen, modernen Hauptstadt-Berlin identifizieren, während die Alteingesessenen doch einst dem Charme des Verfalls und dem Loser-Image Berlins erlegen waren. Früher zog man nach Berlin um möglichst weit weg vom normalen, funktionierenden Deutschland zu sein, heute zieht man nach Berlin, um Karriere zu machen.

David Bowie beschenkt Berlin

Aber während halb Berlin und ganz Deutschland wegen des bislang gescheiterten Bauprojekts jammert, hat David Bowie an seinem 66. Geburtstag, am 8.Januar, einen neuen Song , den ersten nach zehn Jahren samt Video veröffentlicht und Berlin damit ein Geschenk gemacht.

Videostill aus David Bowies neuer Single. Zwei Köpfe vor Bildern Westberlins

David Bowie

In "Where are we now?" singt er vom alten Westberlin, vom legendären Club Dschungel, von seiner Zeit in Schöneberg in den späten Siebzigern , der Zeit in der er die Alben "Low", "Heroes" und "Lodger" aufnahm.

Und zu dieser speziellen Zeit ist wiederum, wie es der Zufall so will, in diesen Tagen ein großartiges Buch erschienen.

Buchcover: Wolfgang Müller. subkultur. West-Berlin 1979-1989

Fundus Verlag

Mit "Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit." hat Wolfang Müller, Autor und Mitbegründer des Kunstkollektivs "Die tödliche Doris", Islandforscher und Blaumeisenspezialist ein Standardwerk, ein Nachschlagewerk zum alten Westberlin verfasst. Eine versunkene Stadt, die von den Einstürzenden Neubauten, David Bowie, aber auch Oskar Wiener, Martin Kippenberger aber auch von Gestalten wie Rattenjenny und Strapsharry, von Orten wie dem "Risiko", dem "Kumpelnest 3000", dem Punkschuppen "So 36" und dem berühmten "Anderen Ufer" in Schöneberg geprägt wurde. Im "Anderen Ufer" ging nämlich David Bowie immer frühstücken, wie Westberliner Veteranen berichten.

Bei Wolfgang Müllers erfährt man auch darüber mehr:
"Ungeachtet der revolutionären Tat , ein Café "Anderes Ufer" zu nennen und es öffentlich und offensiv als Schwulenlokal zu betreiben , halten sich die künstlerisch-ästhetischen Vorstellungen der Inhaber eher im bürgerlich-gediegenen Rahmen. Die gebrauchten Bettlaken mit Körperflüssigkeiten, welche Blixa Bargeld 1979 an den Wänden des Lokals drapiert, werden noch am gleichen Tag von den pikierten Inhabern entfernt.

Viele weiter interessante Details kann man in diesem Buch nachlesen, schwungvoll erzählte Erinnerungen, Assoziatives, Klatsch und Tratsch über Westberliner Persönlichkeiten, Zickereien und Absurditäten.

Und wenn diese Zeit auch unwiederbringlich dahin ist, es war doch schön, dass es das Alles gab, und das auch David Bowie sich gerne daran erinnert, was ist dagegen ein halbfertiger Großflughafen?