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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

9. 1. 2013 - 11:54

Die Seele des Soldaten

Unser Bus hängt schon die dritte Stunde an der serbisch-ungarischen Grenze fest.

Ich glaube, dass die ungarischen Grenzwärter jedes Mal absichtlich die Busse aus Bulgarien aufhalten. Sie sind ja die Außengrenze des Schengenraums ... Wir werden nicht durchsucht, wir sitzen und warten nur seit einer kleinen Ewigkeit.

Ich will hinauslaufen und schreien, dass die Bulgaren ihr Blut auf diesen Feldern vergossen haben, um die Nazis zu verjagen, und wir jetzt in die Kälte warten müssen. Das interessiert aber niemanden, außerdem wird mir keiner glauben. Es ist aber die Wahrheit! Im späten Herbst 1944 kämpfte die bulgarische Armee auf ungarischem Territorium. Die bulgarische Regierung hatte ihrem früheren Verbündeten, Hitlerdeutschland den Krieg erklärt.

Kirche mit zwei Türmen in ländlicher Gegend

Todor Ovtcharov

Die Kirche von Lometz

Vor einigen Tagen war ich in dem Balkandorf Lometz, wo meine Familie ein Haus hat. Einer unserer Nachbarn hat erfahren, dass ich bald mit dem Bus nach Wien fahren werde. „Sei achtsam, wenn du durch Ungarn fährst! Da liegt mein Vater!“, sagte er zu mir. Der Nachbar Minko hat sein ganzes Leben der Suche nach dem Grab seines Vaters gewidmet. Zuerst hat er nach noch lebenden Soldaten aus Vaters Regiment gesucht. Er hat auch einige gefunden, konnte aber das Bild vom Tod des Vaters nie ganz fertig kriegen. Einer erzählte ihm: „Am Abend zuvor haben wir unser Abendessen bekommen. Dein Vater gab mir Salz. Er holte es aus seinem Säckchen heraus. Es gab nie genug Salz an der Front. Und ohne Salz kannst du nicht gut essen. Das war sei letztes. Morgen Abend gebe ich dir Salz, sagte ich. Es gab aber kein morgen Abend.“ Minko erfuhr die Geschichte mit dem Salz, konnte sich aber die letzten Stunden seines Vaters immer noch nicht gut vorstellen. Deshalb suchte er den Regimentsoffizier.

Der alte Oberleutenant konnte sich erinnern, wie er einen Brief an die Verwandten des Toten geschrieben hat. An seinen Tod aber erinnerte er sich nicht mehr. „Alle sind zusammen im Krieg, aber jeder stirbt alleine“, sagte er. Minko konnte nicht herausfinden, wie sein Vater gestorben ist. Ich frage ihn, ob er sich an seinen Vater erinnern kann. Nein. Nicht ein Foto ist von ihm übriggeblieben. Er erinnert sich nur, dass, als sein Vater mobilisiert wurde, das Wetter sehr warm war. Als die Nachricht von seinem Tod kam, war es schon kalt. Keiner im Dorf wollte die Nachricht übermitteln. Weder der Bürgermeister, noch der Postbote. Sie gaben den Brief dem Dorftrottel, der ihn endlich gebracht hat. Ein Brief, eine Urkunde und eine Medaille, die der Vater nach seinem Tod bekommen hatte.

Brunnen mit Gedenktafel

Todor Ovtcharov

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Gegenüber seinem Haus hat Minko in Erinnerung an seinen Vater einen Brunnen gebaut. „Die Menschen kommen, setzen sich, trinken Wasser und reden gut über mich und meinen Vater.“ „Schau genau, wenn du durch Ungarn fährst, dort ist die Seele meines Vaters.“ Jetzt will ich ihm sagen, dass die Seele seines Vater viel mehr in ihm lebt, als in den kalten Gesichtern von diesen verdammten Grenzwärtern, die uns schon drei Stunden terrorisieren. Unser Bus fährt endlich los durch die erfrohrenen Ebenen Südungarns. Meine Mitfahrer, eine Brigade von Bauarbeitern, die morgen an den Baustellen Westeuropas sein sollen, schlafen friedlich. Ihre Smartphones, die bis vor kurzem fröhliche Popfolkmusik versprudelt haben, sind endlich still. Ich versuche durch die Dunkelheit auf der anderen Seite der Fensterscheibe etwas zu erkennen. Das einzige, was ich sehe, ist das Spiegelbild meiner Augen.