Erstellt am: 8. 1. 2013 - 16:25 Uhr
Das weiße Rauschen
Kiepenheuer & Witsch
Vladimir Sorokins "Der Schneesturm" ist in der fantastischen deutschen Übersetzung von Andreas Tretner im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen
Beim Stichwort "russische Literatur" verstecken sich viele gleich unter dem nächsten Tisch. Tolstoi sei Dank gilt die nämlich immer noch als pathetisch, langatmig und schwermütig. Wer das neue Buch von Vladimir Sorokin in die Hand nimmt, kann dieses Klischee innerhalb von wenigen Sekunden widerlegen.
Knappe zweihundert Seiten leicht ist sein Roman "Der Schneesturm", der jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Zwei Männer lassen sich darin von Zwergpferden durch eine Landschaft aus Schnee und Eis ziehen.
Ein Toter legt sich schlafen
Aufs kahle, weiße Bett.
Vorm Fenster Schneegestöber,
So friedlich, still und nett …
Dieser Vers des russischen Dichters Alexander Blok eröffnet den "Schneesturm". Und gibt auch gleich die Stoßrichtung von Vladimir Sorokins traumwandlerischem Buch vor: ein Doktor strandet darin in einem kleinen Kaff. Eigentlich muss er aber weiter nach Dolgoje: dort ist vor wenigen Tagen die bolivianische Pest ausgebrochen. Und das "Doktorchen", wie er genannt wird, soll den Impfstoff liefern. Pech, dass gerade jetzt ein gewaltiger Schneesturm aufzieht.
Nur der verschrobene Krächz erklärt sich einverstanden, den Doktor mit seinem Schlitten nach Dolgoje zu bringen. Es beginnt eine irrlichternde Reise mit mehreren Stationen: Bevor sie ans Ziel kommen, werden die Männer an ihre körperlichen Grenzen kommen – und die Grenzen ihrer Wahrnehmung überschreiten.
Die transparente Pyramide gab einen leisen Pfeifton von sich und löste sich in Luft auf. Der Brenner erlosch. Im nächsten Moment wölbte sich über dem Tisch eine durchscheinende Halbkugel aus feinster lebend gebärender Plastik, die die vier einschloss und vom Rest des Raums und der Welt schied;
"Madagaskar", sprach Leistritt mit schwer werdender Zunge den traditionellen Gruß konsumierender Dopaminierer.
Und noch ehe der Doktor ein Raksagadam! antworten konnte, kippte er in einen anderen Raum.
Vladimir Sorokin ist ein Ausnahme-Autor. Kein Wunder, dass er in Russland bekannt wie ein bunter Hund ist. Seine Geschichten nesteln sich in bekannten Welten ein, bevor sie sie unversehens erweitern und fantastisch ausschmücken. Grundsätzlich erinnert die Welt in "Der Schneesturm" an das ausgehende 19. oder beginnende 20. Jahrhundert: dann aber schaltet eine trinkfeste Müllerin plötzlich das Radio an.
Es knackte im Empfänger, und über ihm erschien ein rundes Hologramm mit einer dicken 1 in der rechten oberen Ecke. Auf dem ersten Kanal liefen Nachrichten; von der Rekonstruktion des Automobilwerks in Schiguli war die Rede und von den neuen einsitzigen Kraftfahrzeugen mit Kartoffelantrieb.
Und auch die bolivianische Pest hat wenig mit herkömmlichen Krankheiten zu tun.
"Vorstellen kann ich mir das alles nicht", entgegnete die Müllerin kopfschüttelnd. "Dass die im Winter aus den Gräbern kriechen, wo die Erde steinhart gefroren ist?"
"Das Virus verändert den menschlichen Körper, die Muskelkraft nimmt extrem zu", brummte der Doktor, ohne sie anzusehen.
"Denen wachsen Krallen, Markowna, richtige Bärenkrallen", meldete sich der Geselle zu Wort.
"Ich habs im Radio gesehen: die graben sich durch die Erde wie Maulwürfe, sogar durch gestampften Boden, kriechen raus und fallen Menschen an!"
Man sollte schon ein offenes Hirn mitbringen, um "Der Schneesturm" ganz in sich aufnehmen zu können. Die Fantastik von Vladimir Sorokin erwischt einen nämlich immer von hinten, schleicht sich zwischen den Buchstaben heran und schlägt dann mit voller Wucht zu. Ohne die Aura des Besonderen liegen dann plötzlich Leichname von riesenhaften Kreaturen mitten auf der schneeverwehten Straße. Als sich die Kufe des Schlittens im Nasenloch einer dieser Kreaturen verfängt, muss der Krächz mit einer Axt den Schädel des Giganten aufbrechen. Ein andermal driftet der Erzählfluss über viele Seiten in eine Drogen induzierte Traumwelt ab.
Bei aller Fantastik stehen in Sorokins Roman letztendlich aber immer seine beiden Hauptfiguren im Zentrum. Wie sie schimpfen und frieren, lachen und weinen, saufen und rülpsen. Mitten im Schneesturm. Am Ende der Welt.