Erstellt am: 13. 1. 2013 - 11:43 Uhr
Das stumme Starren
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Kann man Abneigungen gegen Alltags-erhaltende Selbstverständlichkeiten entwickeln? Abneigungen, die so stark werden, dass das Leben beginnt, in einem Strom der Abscheu zu mäandern?
http://www.flickr.com/photos/tomitapio/
Ich zum Beispiel gehe nicht gern auf der Straße, bei Tageslicht schon gar nicht. Selbstverständlich bin ich aber zu geizig und pleite, um Taxi zu fahren, zum Autofahren untertags zu hektisch und in der Nacht zu betrunken. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel stellt kein großes Problem dar, denn da haben sich die Passagiere zumeist in ihr inneres Hamsterlaufrad zurückgezogen.
Freundlichkeit unter Fremden, sogenannte Fremdlichkeit im öffentlichen Raum? Ein Swingerclub des Sozialen? Undenkbar in den guten alten Wiener VOR-Vehikeln.
Ich würde sogar vorschlagen, eine neue Kategorie für die Lebensqualität einer Stadt zu erstellen: Wie lange muss frau einem Blick standhalten können, ohne dass sie im wunderschön grausamen Spiel des Starrens verliert? In Wien kenne ich keine Ecken, an denen zufälliges Aufeinandertreffen möglich und missionsloses Verharren plausibel ist, aber dennoch ist das Tempo so langsam, dass viel Zeit zum Starren, zu verdeckten optischen Penetrationsversuchen und offenen Kategorisierungsblicken bleibt.
Mich bitte nicht falsch verstehen, ich bin keine Advokatin von apathischer Höflichkeit im öffentlichen Raum: Ich glaube, dass wir uns sprachlich auf der Straße aneinander reiben und uns auf zufällige Konfrontationen einlassen sollten. Ich gebe gerne darüber Auskunft, wo die nächste U-Bahn, Abtreibungsklinik oder Trafik ist. Ich habe auch wenig Probleme mit einem rübergerotzten "Was is Oide", da kann ich zurückmotzen. Und schon oft war in meinem Leben Unverschämtheit die Basis einer wunderbaren Freundschaft.
Mein verehrter Freund Skero hatte vor Jahren schon die brillante Idee, damals noch mit Kassetten, Hörspiele aufzunehmen von Typen die einem blöd nachplärren, um die verbalen Kontra-Reflexe zu trainieren und menopausen-bedingte Depressionen, wenn einem niemand mehr nachplärrt, hinauszuzögern.
Das stumme Starren hingegen ist eine Grenzkontrolle der selbsternannten Zöllner und Polizisten, die internalisiert haben, dass der öffentliche Raum niemandem gehört.
Deshalb heute hier eine Kollektion von Videos von Damen, die das Starren ernst nehmen, diese Blicke umdrehen und die Straße zu ihrer Bühne gemacht haben. Und so unterschiedlich ihre Ausdrücke und ihre Missionen auch sind, die Freiheit knirscht unter ihren Sohlen.
Evolution:
Das Video zu Erykah Badus Lied "Window Seat", das im März 2010 erschienen ist.
Es ist ein Video, das ohne Genehmigung, ohne große Crew und ohne Absperrung des Drehorts auf dem Dealey Plaza gefilmt wurde. Am 22. November 1963 wurde an genau diesem Ort John F. Kennedy erschossen. Im Vorspann dankt sie Matt und Kim, die mit "Lessons Learned" 2009 eine ähnliche um Freiheit und Scheitern oszillierende Idee verfilmt haben.
Erykah Badu über Window Seat:
"The song 'Window Seat' is about liberating yourself from layers and layers of skin or demons that are a hindrance to your growth or freedom, or evolution. I wanted to do something that said just that, so I started to think about shedding, nudity, taking things off in a very artful way."
Flucht? Niemals!!!
Peaches' von Boys Noize und XXX Change produzierte Single "Burst", erschienen September 2012.
You’re all alone and you know you like it that way.
Peaches rennt mit verschmiertem Make-Up in der Nacht auf der Straße. Zorn, Angst Aggression fallen in dem für mich nicht mehr interpretierbaren Gesichtsausdruck zusammen, während die Geister, die sie wohl selbst geklont hat, aus dem Dunklen nach ihr greifen.
Euphorie:
PJ Harveys "Good Fortune", erschienen 2000 auf dem Album "Stories from the City, Stories from the Sea".
Threw my bad fortune
Off the top of
A tall building
But I'd rather have done it with you
Nach Jahren der Selbstvivisektion hat PJ Harvey Dorset verlassen und ist im nächtlichen New York angekommen. Sie ist verliebt, aber der Typ ist nur als ein Echo, ein Katalysator der Befreiung von sich selbst präsent.
Nach der Selbstzerfleischung, zu hören vor allem auf Dry und Rid of Me, will sie kein Opfer mehr sein, auch nicht von sich selbst, damals meinte sie zu "Stories from the City, Stories from the Sea", dem Album auf dem "Good Fortune" zu finden ist,
"I want absolute beauty. I want this album to sing and fly and be full of reverb and lush layers of melody. I want it to be my beautiful, sumptuous, lovely piece of work."
Entrückung:
Massive Attack "Unifinished Sympathy", 22. Jänner 1991.
Shara Nelson, die Sängerin der Nummer, geht drei Blocks am West Pico Boulevard in Los Angeles entlang und das Leben in all seiner Schönheit und Grausamkeit zieht an ihr vorbei.
massiveattack
Like a soul without a mind
In a body without a heart
I'm missing every part
Unauffällig, im Hintergrund und teilweise unscharf, folgen ihr die restlichen Mitglieder von Massive Attack, Daddy G. in roter Bomberjacke und einem Kind an der Hand und 3D, der sein Telefongespräch an der Ecke in jenem Moment beendet, an dem Shara vorbeikommt, und ihr folgt. Die Pico/Union Nachbarschaft, in der das Video gedreht wurde, war zu diesem Zeitpunkt ein Ort, an dem man auf Statisten in komplizierten juristischen Situationen traf.
Keine Inszenierung kann schöner als die Realität sein. "Unfinished Sympathy" startet mit N.W.A-Klonen mit sonnenbebrillten Kampfhunden und endet mit großen anonymen Heldinnen von mir, die von Massive Attack verewigt wurden: zwei Vegan Militia Riot Girls im Parliament Outfit, die vorbeifahrende Autos mit Salat bewerfen.
Baille Walsh ist der Regisseur des in einem Take gefilmten und oft kopierten Videos oder "Promo Clips", wie man es damals noch nannte. Genau an dem Tag, als das "Unfinished Sympathy"-Video gedreht wurde, erfuhren Massive Attack, dass ihre Plattenfirma ihnen auftrug, sich von nun an nur Massive zu nennen. Das 2Attack" sei zur Zeit, also während des ersten Golfkrieges, zu provokativ.
"It was quite a frightening experience. But, Baillie’s got the ability to help you forget what’s going on and to just concentrate on what you’re doing. And of course, I had those bodyguards the other Massive Attack members behind me. I wasn't on my own."
Blitz:
Yeah Yeah Yeahs "Zero" 2009
"Zero" ist die erste Single aus dem dritten Yeah Yeah Yeahs Album "It´s Blitz". Karen O. sitzt zu Beginn des Videos in ihrer Garderobe und schminkt sich. Eine japanische Tonspur ist über die Unterhaltung mit ihren Bandkollegen gelegt. Sie macht sich auf den Weg zur Bühne, und als sie den roten Samtvorhang zur Seite schiebt, steht sie auf den Straßen des nächtlichen San Franciso. Ein grandioses Intro, das zu endlosen Forumsdiskussionen führt, worum es in der Nummer geht:
Es geht um die Deformationen, die das Musicbusiness einer zarten Musikerinnenseele zufügt. Es geht um Identitätsverlust.
Es geht um Prostitution. Es geht um zufälligen Sex in Darkrooms. Und meine Lieblingsinterpretation: Es geht um Kamikaze-Piloten.
Karen O. singt von Leitern, die zur Sonne gelegt werden, sie singt von Shell shock, posttraumatischen Zuständen nach Bombardements, und "Zero" war der von den Flugzeugen abgeleitete Spitzname der Piloten.
Vielleicht ist die Verfassung, in der sie ekstatisch durch die Nacht hüpft, die Negation jenes Zustandes, der das Resultat aus all dem oben aufgelisteten ist.