Erstellt am: 5. 1. 2013 - 19:24 Uhr
Journal '13. Eintrag 4.
Das ist das Journal '13, wie schon 2003, '05, '07, 2009 und 2011; heuer ohne garantierte Täglichkeit.
Die ersten Sätze in Albert Camus' "L'Étranger" (Der Fremde) lauten so: "Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas." Ich weiß dass es gestern und nicht heute passiert ist.
Gestern ist meine Mutter gestorben.
Heute habe ich ihre Kindheitserinnerungen wieder gelesen.
Selbstverlag, Kleinstauflage, trotzdem mussten wir nachdrucken lassen. Die Mundpropaganda hatte die Nachfrage im Mamas Geburtsort zu groß werden lassen.
"Nur ein Mädchen vom Lande" hat sie die über hundert Seiten betitelt, mit Understatement und durchaus ironisch. Festhalten wollte sie ihre Kindheit und Schulzeit wohl im Wissen darum, dass mündliche Überlieferungen (auch im Familienverbund) gern in überspitzen Anekdoten und zu symbolhaften Grundzügen hängen bleiben, die Details (vor allem die des Alltags) aber verlorengehen. Und wohl auch um ein Äquivalent zu den wiederholten und wuchtigen Erzählungen meines Vaters, des Stadtkinds, zu bieten.
Heute Nachmittag bin ich noch zu einer der Adressen, die sie erwähnt hat, gegangen, um abzuklären, ob mich meine Erinnerzung nicht täuscht. Nein, es stimmt: der Hinterhof mit dem verfallendem Salettl, in dem sie als Mädchen gespielt hat, ist derselbe Platz, an dem ich dann als Kind auch gespielt habe.
Das Mädchen vom Land wuchs zwar in einer bäuerlich geprägten Gemeinde mit Schloss, Fabrik und Wachau-Nähe auf, natürlich war die Übersiedlung nach Wien aber ein Kulturschock. Der Kriegsausbruch im selben Jahr macht den Wechsel auch noch zu dem von einer ruralen Vorkriegs- in eine urbane Kriegs-Gesellschaft.
Meine Mutter war damals neun, und spricht von einer Flucht nach Wien. Ihre Mutter, meine Oma, war nicht nur die erste Frau im Dorf, die sich Mitte der 30er einen Bubikopf schneiden ließ, sie war auch die erste, die eine glücklose Ehe mit der Unerhörtheit einer Scheidung beendete, die kleine Tochter für sich reklamierte und in die Stadt zog.
Meine Oma hat sich diese Radikalität bis ins hohe Alter bewahrt: freies Denken, freie Aussprache und auch freie Liebe, etliche Ehen und Abschnittspartnerschaften und zahlreiche Liebschaften. Ich kann mich an viele Gespräche der beiden erinnern, in denen meine Mutter den mütterlichen, fürsorglichen Part übernahm und meine Oma auf ihrer jugendlich anmutenden Unkonventionalität beharrte. Es waren emotionale, warmherzige und liebevolle Gespräche.
Ob meine Mutter durch die Lebensumstände in diese Rolle der Ausgleichenden gehievt wurde oder ob das ihr Naturell war, lässt sich schwer sagen. Denn neben der Geraderückerin für meine Oma, der Übersetzerin für meinen Vater, der Zusammenhalterin ihres Freundinnenkreises und natürlich auch dem Mutter-Job für meine Schwester und mich blieb nicht so viel Raum für das offensive Ausleben von Eigeninteressen.
Nach '45, dem Ende ihres Kindheitserinnerungs-Textes und dem systembedingten Abschluss mit der mittleren Reife, lernte meine Mutter das Couture-Handwerk, in einem der damals guten Häuser. Sie wurde Schneidermeisterin, das machte sie gern und sie war gut. Auf Kinderbildern sehen meine Schwester und ich aus wie aus dem Katalog gepellt. Aber in den 50ern und 60ern war für eine Ehefrau und Mutter mehr als eine kleine Privatschneiderei nicht möglich. Ich kann mich noch gut an den riesenhaften Schneidertisch ereinnern, der im späteren Kinderzimmer stand.
Wobei: über diese Zeit, die zwischen '45 und Anfang '60 weiß ich am wenigsten - da waren meine Eltern nie erzählfreudig. Wohl weil diese Zeit des neuen Friedens und Aufbaus im Gegensatz zur Ära davor ihrer Meinung nach nicht viel hergab. Aber auch weil Eltern eine seltsame Scheu haben ihren (dann auch erwachsenen) Kindern etwas aus ihrer wilderen, vorehelichen Zeit zu erzählen. Mein Vater machte hin und wieder Andeutungen über seine Phase als Swing-Tänzer, meine Mutter erzählte diese Ära nur über die Biografien ihrer Freundinnen oder über Schwärmereien für Schauspieler; was ja bereits im Backfisch-Alter ein Thema war. Da fällt mir ein; in ihrer Niederschrift beschreibt sie, warum Johannes Heesters in den 40ern bei ihr und ihren Freundinnen so beliebt war: seine (etwas) längeren Haare wurden als widerständig gedeutet, als Assoziation zu den Schlurfs.
Als die Kreisky-Ära auch Frauen ohne familiären Kapital-Background so etwas wie Karrieren möglich machte, war es für meine Mutter schon zu spät. Sie schneiderte weiter, per Mundpropaganda, für den Bekannten- und Freundeskreis, nahm später, als meine Schwester und ich alt genug waren, auch einige Teilzeitjobs (im Sozialbereich u.ä.) an, blieb aber klassische, dem Mainstream ihrer Generation geschuldete Hausfrau/Mutter. Und sie war die, die die sozialen Kontakte in der Hand hielt, die Gastgeberin, aber auch der Enforcer (gerne Lehrern gegenüber...). Die Nährende, wie das meine Schwester unlängst so schon gesagt hat, auch für Freunde der Kinder. Sie war Mediatorin zwischen Streitparteien, hatte ein Händchen für Amtswege und Geschäftsverhandlungen und war aufgrund ihrer inhaltlichen Sorgfalt und der von ihrer Mama ererbten Beharrlichkeit eine umsichtige Managerin.
Ich bin ja nicht nur optisch (zumindest auf alten Fotos) das Papa-Kind, ich ertappe mich ja öfters, durchaus wöchentlich, bei Sätzen, Handlungen oder Taten, die ich (ein paar Sekunden später) mit "Ich bin da wie mein Vater" beschreiben kann. Es gibt aber auch Situationen, in denen ich meine Mutter bin und die sonst gern verstecke soziale Intelligenz rauslasse. Am intensivsten war das in der Gründungsphase von FM4 der Fall, wo ich alle Kraft und das von ihr abgeschaute Geschick aufwenden musste, um Menschen, die vereinzelt nichts erschaffen hätten, an einen gemeinsamen Tisch und zu einer gemeinsamen Abmachung zu bringen.
Meine Schwester, die den Jugendbildern der Mama wie aus dem Gesicht gerissen ist, kann das alles viel besser. Und verbindet diese Talente mit einer künstlerisch-spirituellen Art, die meine Mutter vielleicht in sich getragen hat, aber nie erproben konnte oder mochte. Das hat aber nichts mit einer österreichischen Frauen etlicher Generationen eingeimpften Genügsamkeit zu tun (über die haben wir uns gern gemeinsam lustiggemacht); zudem war der lebende Anschauungs-Unterricht in Form meiner Oma auch immer zu stark und zu kraftvoll. Ich denke, es lag an einer Mischung aus Pragmatik und Erfüllung, dem gelungenen Erledigen einer Aufgabe mit durchaus hohem selbstgestellten Anspruchs-Niveau.
2000 hat meine Mutter, auch um hier einem/ihrem Anspruch zu genügen, den erwähnten Erinnerungs-Text verfasst, ein Büchlein draus gemacht, das dann auch Teil einer Aktion der Stadt Wien wurde und sie irgendwie auch offiziell zum Stadkind machte. Ihren Geburtsort haben wir gemeinsam zuletzt im Sommer '11 besucht, am vielleicht heißesten Tag der Geschichte. Durchaus im Bewusstsein der Letztmaligkeit.
Mein Vater sagt, dass er meine Mutter in jedem Handgriff, in jedem Gegenstand, bei jedem Blick aus dem Fenster und auch an vielen Orten der Umgebung und der Stadt bei sich spürt, so präsent ist sie ihm.
"So" sagt meine Mutter, "jetzt gehst' aber, Bub. Es ist schon spät. Und bind' dir den Schal um, es ist kalt draußen."