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Albert Farkas

Ein kühnes Kratzen an der Oberfläche von Hohlräumen.

4. 1. 2013 - 19:10

Doppelt quält besser

Wer sich dieser Tage ein Erlebnis von totaler Immersion wünscht, kann sich entweder MarieLuise, eine zeitgenössische Kammeroper über siamesische Zwillinge, anschauen, oder auf einem zugeeisten Naturteich einbrechen.

"I appreciate the muppets on a much deeper level than you."

Mit der Aufführung des neuesten Projektes des Operntheaters sirene im Wiener Palais Kabelwerk erfährt der Spruch, den die Satire-Schmiede The Onion im letzten Jahrzehnt als Spöttelei dem zwanghaften Drang nach Deutungshoheit und Distinktionsgewinn diverser Kultursnobs zugedacht hatte, und der inzwischen zu popkulturellen T-Shirt-Abdrucks-Ehren gelangt ist, einen ernsten, sowohl eine Gesellschaft als auch sich selbst (als Kunstform) reflektierenden Widerhall.

Denn diese Figuren, die im Laufe des Geschehens zu Marionetten erst gemacht und als solche instrumentalisiert werden, wollen für voll genommen und verstanden werden.

Marie (Iwona Sakowicz) und Luise (Salina Aleksandrova)

Gespiegeltes Gesicht

Sirene Operntheater

sind ab der Hüfte miteinander verbunden, teilen sich zwei Beine und zweieinhalb Arme, was an und für sich eine konkrete Inkarnation von prekären Lebensverhältnissen darstellt. Doch zu Beginn sind die Beiden noch Prototypen vorsündlicher vorsintflutlicher Unschuldskinder, und haben sich in scheinbar untrübsamer Eintracht miteinander arrangiert. So harmonisch verhandeln sie ihr gemeinsames Leben, dass sie sich für parteipolitisches Engagement berufen fühlen.

Eine "etwas kaltblütige Versuchsanordnung" nennt Librettistin und Regisseurin Kristine Tornquist ihre narrative Schöpfung, und ihre Kollaborateurin vom sirene Operntheater, Isabelle Gustorff, umreißt die Vorahnungen, die einen ab diesem Moment beschleichen, im dazu gehörigen Programmheft (das im Übrigen auch eine brilliant-absurd-krasse, thematisch verwandte Kurzgeschichtenfantasie von Ann Cotten enthält):

"Das kann nicht gut gehen, denkt man sich von Anfang an. Die Idylle ist eng, gefährdet und brüchig. Sie besteht um den Preis der Unfreiheit und zerfällt, als beide das Beziehungsgehäuse gedanklich zu öffnen beginnen."

Doch entscheidend für das Austreiben des Keimes der schwesterlichen Spaltung ist eben erst die unbeirrbar-skrupellose Intervention der Dealer und Makler der Macht (kaum ein Binnen-I notwendig). Bei der gelben Fraktion, wo man sich angesichts des zu erwartenden Profilgewinns, bedingt durch die Umfunktionierung zweier Alibi-Mainstreamabweichlerinnen zu Aushängeschildern, schon die Hände reibt, wird das Zwillingspaar enthusiastisch aufgenommen. Ab da werden die beiden anfänglichen Idealistinnen, auch unter besonderer Mitwirkung der Boulevardmedien, sukzessive vereinnahmt, korrumpiert und schließlich auseinanderdividiert. (Irgendwo mittendrin gibt es eine von Elias Canetti und der Verhaltensforschung abgewandelte Ausführung über enthirnte Elritzen, die veranschaulicht, wie es passieren kann, dass es oft der Dreck ist, der in einer Gesellschaftsordnung am weitesten nach oben schwimmt.)

In einem zynischen Anklang an die bis zur gegenseitigen Aufhetzung hochgespielten Freak-Shows und -Kämpfe auf den Rummelplätzen vergangener Zeiten wird MarieLuise ein Posten im Kabinett - ausgerechnet das Sozialressort – in Aussicht gestellt, um dessen Erhalt sie aber erst in einer Kampfabstimmung gegen einander antreten müssen. Von einer neuen Ära der Empathie und des Respekts keine Spur: An Stelle der ehemaligen Verächtlichmachung ist bloß eine verfeinerte, perfidere Form von Missbrauch getreten; wären die sogenannten siamesischen Zwillinge in vorvorigen Jahrhunderten noch als Un-Menschen behandelt worden, dienen sie jetzt, als nützliche Idioten - ganz nach Praxis einer Obrigkeitskaste, in der ein General die Ermöglichung der Pionierleistung, als erster Afroamerikaner das Amt des US-Außenministers zu bekleiden, wider besseren Wissens mit dem Nachplappern trügerisch konstruierter Beweggründe für eine militärische Aggression bezahlen muss.

Den Versuch der Selbstermächtigung, was zwangsweise zusammen lebende Menschen betrifft, hat im Pop in den letzten Jahren das unter anderem von Amanda Palmer protegierte Musik- und Performance-Projekt Evelyn Evelyn vorgeführt.

Marie und Luise verharren als eingelullte Statistinnen, die es nicht darauf anlegen, die Regeln des Spiels zu ihren eigenen Zwecken rechtzeitig an sich zu reißen. Somit werden sie schließlich am Ende der Legislaturperiode als genehme Bauernopfer wieder aus dem politischen Geschäft ausgespuckt. Doch die erlittenen Schocks sind unumkehrbar, die aufgeweckten und eingetrichterten Zweifel und Misstrauensmomente gären bis zum bitteren Ende, an dem die Frage "Auf wessen Kosten lebe ich?" eine besonders drastisch-konkrete Deutung annimmt, weiter vor sich hin: "Ihre zunehmende Opposition hat sich auf ihren geteilten Körper verlagert." Und wir im Publikum sind wieder einmal, wie so oft, nur passive Mittäter.

Dass das so ist, ist nicht zuletzt auch das Verdienst von Gernot Schedlsbergers Musik. Wenn man sich das Ausmaß der Nutzung bestehender Präsentationskanäle für zeitgenössische klassische Komposition vor Augen führt, könnte man ohnehin glauben, dass die E-Musik in Europa und Amerika heutzutage vielleicht mehr Vorurteilen ausgesetzt ist, als jede mit körperlichen oder geistigen Besonderheiten ausgestattete Personengruppe. Aber bei der Art dieses musikalischen Gerüsts könnten sich wirklich selbst Jahre der selbst angediehenen Einheiten in strukturellem Hören als wirkungslos erweisen: Hier piekst, sticht, irritiert und malträtiert das Ensemble mit seiner zwillingshaften Klarinetten-/Bassklarinetten-Combo von der ersten Sekunde an ohne Unterlass und in kompromisslosester dissonanter Manier, und das ist alles so beabsichtigt und auch eine deutliche Parabel auf das vorherrschende Thema des (Un-)Trennbaren und die Erlebniswelt des im Zentrum der Erzählung stehenden und jeden anderen Paares: Musik mag man sich zusammen zu Gemüte führen können – teilen kann man sie miteinander nicht.

MarieLuise wird noch bis 9. Jänner 2013 im Palais Kabelwerk in Wien gezeigt.

Sediert und Seziert

Nebenbei wird der Text der gesungenen Zeilen in beträchtlich großen Lettern auf die Kulisse projiziert. Damit sind die drei wesentlichen Wahrnehmungs(unter-)typen auch schon aktiviert, bedient und ausgelastet, und die Tyrannei der Reizimpulse quasi perfekt. Der Effekt ist überaus bemerkenswert: Alle kognitiven Auswege wurden abgesperrt, es ist weder ein Mitfiebern mit den in ihrem Handeln beanstandenswerten, zu einer grauen Masse verschwimmenden Charaktere möglich noch ein auch nur augenblickliches inneres gedankliches Ausklinken.

Man befindet sich praktisch über zwei Stunden lang im nicht locker lassenden atmosphärischen Schwitzkasten eines lähmenden, bedrückenden Schwebezustandes. Dabei gibt es sogar durchaus oberflächlich skurrile Momente, in denen die Chefs der beiden größten Parteien beispielsweise miteinander Tango tanzen, aber niemandem kann es in den Sinn kommen, diese Situationen wirklich als Komik hinzunehmen und sich durch sie das dominante Gefühl der betretenen Beherrschtheit aufhellen zu lassen. Auch jedes Potenzial der inneren Auflehnung und Katharsis wird unterdrückt.

Zum Schluss ist jede/r Anwesende ganz und gar ermattet, entmachtet, bezwungen und gefügig gemacht. Und man denkt sich: Ja. Eigentlich kann man ein Leben, in dem die Möglichkeit der Wahl immer mehr wie eine Illusion erscheint, und in dem jeder Mensch bewusst oder unbewusst von jemand in einer sozial höheren Stellung instrumentalisiert wird, hier wieder erkennen und resigniert abnicken.

Die Titelfiguren der Oper mögen also die meiste Zeit über an Seilen hängen; wir aber hängen am Ende jedenfalls kollektiv in ihnen.