Erstellt am: 3. 1. 2013 - 20:10 Uhr
Journal '13. Eintrag 3.
Hallo Lesende, das ist das Journal '13, die tägliche Äußerung in ungeraden Jahren. Obwohl: ich kann - im Gegensatz zu 2003, '05, '07, 2009 und 2011 - heuer (erstmals) keine Täglichkeit garantieren; das Leben wird mir heuer manchmal dazwischen kommen.
Ansonsten bleibt alles wie im Twitter-Profil steht: "Martin Blumenau, Chief Coordinator bei Radio FM4, Moderator, Autor und Blogger zu den Themen Jugendkultur, Demokratie- und Medienpolitik, Musik und Fußball."
Der Fußball wird speziell gekennzeichnet und schon im Jänner (Afrika-Cup ab 19. Jänner) aktuell. Demokratie- und vor allem Medienpolitik werden sich in diesem Wahljahr wohl in den Vordergrund schieben.
Nicht so sehr in Eintrag 3. Der enthält eine ganz allgemeine Forderung.
Jetzt, wo sich das Skispringen anlässlich der rituell konsumierten Vierschanzentournee ins kollektive Austro-Wohnzimmer drängt, hat Österreich ein Problem: es ist alles kompliziert; keiner hat den Durchblick; alles ist ganz furchtbar.
Ursache des Aufschreis: zu den bisherigen Parametern der sowieso komplexen und fragilen Sportart Skispringen ist nach den sogenannten Windpunkten vor zwei Jahren noch der Gate-Factor dazugekommen. Coach und Springer können so ihre Anlauflänge strategisch sehr kurzfristig bestimmen und erhalten Kompensationspunkte. So fließt neben der Windmessung (wer miese Winde hat, bekommt ebenso Kompensationspunkte), der stilitischen Benotung und der Weite ein vierter Faktor in die Gesamtbewertung ein.
Fürs TV wird das alles mittels Einblendung, hoffentlich hilfreichen Kommentatoren und vor allem mit der deppensicheren Blauen Linie aufbereitet. Die zeigt an, wie weit der Kombattant hupfen muss, um die Führung zu übernehmen.
Das reicht aber nicht. Das Publikum und seine selbsternannten Mandatare, die TV-Kritiker und die Sportjournalisten, protestieren. Man müsse Mathematiker sein, um das noch zu verstehen, seiern die einen; man wisse gar nicht mehr, wann man jubeln solle, greinen die anderen.
Mir bricht angesichts dieses Elends mein mitleidendes Herz.
Aber nur kurz.
Nur so lange, bis mir einfällt, dass dieses Elend immer schon da war. Als ich als Kind im vorigen Jahrtausend noch Björn Wirkola und Jiri Raska mit Arme-vorhalte-Anlauf und paralleler Skiführung segeln sah, weinten die Vorläufer der heutigen Heulsusen noch über die langwierige manuelle Weitenmessung und die irrationale, teilweise dem Kalten Krieg untergeordnete Notengebung, die ihnen die Instant-Erkenntnis vermieste.
Es folgte die Jammerei über den unästhetischen V-Stil, die Überbewertung der Telemark-Landung, die verwirrende elektronische Weitenmessung und jegliche Neueinführung bis hin zu den bereits erwähnten Windpunkten und jetzt eben dem Gate-Factor.
Klarstellung: ich spreche vom Fernseh-Ding "Skispringen", nicht von den gleichnamigen Live-Veranstaltungen. Die sind und waren für Publikum immer schon höchst unübersichtlich und dienen in erster Linie der Unterhaltung, dem Sehen und Gesehen-Werden oder Komasaufen (z.B. Kulm).
Die einzige Konstante in diesem immerwährenden rückwärtsgewandten "Früher war alles einfacher/besser"-Gewinsel war und ist sein eigenes Abo auf immer wiederkehrende Aufführung. Dass es sich hierbei um einen einzigen großen Widerspruch handelt, der bei nur minimaler Reflexion sofort in sich zusammenbricht, ist nicht vermittelbar. Vor allem nicht den sofort reflexhaft das Geraunze übernehmenden, analysefreien Medien. Der Fernseh-Volkssport Skispringen funktioniert dort seit vielen Jahren als Ventil für reaktionäre Bewahrungsrülpser.
Im vorliegenden Fall der Überforderung durch das Bedenken von vier Parametern sehe ich aber einen zusätzlichen kritischen Punkt (eine Skispringer-Anspielung, zwinkerzwinker) erreicht: da offenbart sich nämlich ein tiefergehendes gesellschaftliches Phänomen.
Das Skisprung-Beispiel blattelt Komplexitäts-Versager auf
Die Entwicklung beim Skisprung-Sport geht nämlich recht konform mit der Entwicklung der Wissensgesellschaft.
Die Einfachheit der Vergangenheit entspricht dem, was die heute 40- bis 60-Jährigen in ihrer Aus/Bildung mitbekommen haben. Die Komplexität der Gegenwart entspricht hingegen den heutigen Anforderungen.
So wie sich der technisch und strategisch durchaus anspruchsvolle Skisprungsport in den letzten 40 Jahren entwickelt hat, so sind auch die Anforderungen an Denk- und Kombinationsfähigkeit gestiegen. Von analog nach digital, von nix auf 2.0. Kein halbwegs begabter Schüler wird an der Aufgabe ein eh gar nicht so komplexes System mit vier einflussgebenden Faktoren zu durchblicken (jedes Computerspiel verlangt das) scheitern. Ältere Menschen, die sich seit ihrer Adoleszenz nicht mehr weiterentwickelt haben, kriegen da hingegen automatisch Probleme.
Was im Arbeitsalltag, wenn die Chefs und Vorgesetzten durch wiederholte Unfähigkeit, sich auf aktuelle Anforderungen einzustellen, durch den Delegierungs-Schmäh entkommen, nicht so sehr auffällt, wird bei einer solchen Banalität wie dem Aufschrei gegen das anstrengende Skispringen-Zuschauen offensichtlich. Weite Teile ganzer Generationen sind vom zeit- und technologiegeschuldeten komplexen Denken schlicht überfordert und sind so unvorsichtig/unklug das auf solchen Nebenschauplätzen augenfällig zu machen.
Geriatrie-Lobbyismus oder doch den Weg freimachen?
Dass diese alte, unflexible, muffige, vergangenheitsverherrlichende, früher-war-alles-besser-mümmelnde Generation von den Medien unterstützt und in ihrer weichbirnigen Denkminderleistung schulterbeklopft wird, liegt in der Natur der Sache. Die Medien, vor allem die alten und altbackenen, werden (mangels junger Konsumenten) mit ihrem Publikum immer älter werden müssen - ihnen bleibt also gar nichts anderes übrig als zunehmend geriatrische Lobby-Arbeit zu betreiben. Und die Bestemm-Gesten der Unflexibiltät zu überzeichnen.
In einer Gesellschaft, die a) sich selber ernstnehmen und b) arbeitsmarkttechnisch selbsterneuernd wäre, würde eine seriöse Analyse wohl dazu führen dass a) die Alten die um ein Vielfaches gestiegenen Ausbildungs-Anforderungen an die Jungen endlich würdigen und nicht mehr mit ihrer vergleichweisen Volksschul-Weisheit vergleichen, und b) zumindest in den Bereichen, in denen zeitnahes Denken Grundvoraussetzung für (auch volkswirtschaftlich) bessere Leistungen sind, den Weg für die Jüngeren, die das besser beherrschen, freimachen.
Da mit diesen analytischen und reflexiven Einsichten hierzulande aber nicht zu rechnen ist, bleibt nur die direkte Ansage: ab in die Rente mit allen, die von einer auf vier Einflussfaktoren fußenden Entscheidung überfordert sind.