Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Die ewigen Leiden der Anna K."

Martina Bauer

Geschriebenes und zu Beschreibendes. Literatur und andere Formate.

5. 1. 2013 - 05:55

Die ewigen Leiden der Anna K.

Anna Karenina gehört zu den berühmtesten Ehebrecherinnen der Literaturgeschichte. Und wer solcherart fremdgehen kann, hat folgerichtig auch Familie.

"Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." So lautet der erste und wohl auch berühmteste Satz von Lew Tolstojs Anna Karenina. Und diese 14 Worte sind zugleich auch Establishing Shot, geben das Thema der folgenden über 1.000 Seiten vor.

Lew Tolstojs "Anna Karenina", herausgegeben von Gisela Drohla, ist in einer neuen Auflage 2012 im Insel Verlag erschienen.

Es geht um die Liebe. Was sie entstehen lassen und was sie zerreißen kann: Klein-, Groß- und Schicksalsfamilien. Anna Karenina ist aber auch ein Buch über das gesellschaftliche wie politische Leben Russlands dieser Zeit samt seiner Konventionen und Ideologien. Wie Dostojewskij hat Tolstoj - vermehrt im Fortschreiten des Schaffens - seine Ideen in seinen Romanen propagiert. In Anna Karenina gleicht ihm Lewin, ein Gutsherr, der das einfache, ländliche Leben bevorzugt. Der Rest des rotierenden Personenkarussells - wie nicht unüblich in diesen russischen "Elefanten" (vgl. Swetlana Geier) ein sehr weitverzweigtes Geflecht - ist in der Moskauer und St. Petersburger Gesellschaft verhaftet.

Vater, Mutter, Kind und kompliziertere Familiengeschichten: FM4 widmet sich in den Weihnachtsferien den Familien in der Literatur. Nicht klassischen Familien, sondern Familienklassikern bzw. Klassikern, in denen die Familie eine wichtige Rolle spielt.

Ringelreia

Zum einen wären da die Oblonskijs. Eine kinderreiche, aber nicht unbedingt glückliche Familie. Ihr Oberhaupt ist Anna Kareninas Bruder Stiwa, ein Lebemann. Die Handlung setzt ein, als eine seiner Affären einiges an Aufruhr verursacht, da sie seiner Frau Dolly zu Ohren gekommen ist. Dollys Schwester Kitty wiederum ist soeben ins heiratsfähige Alter gekommen und wird scheinbar vom Grafen Wronskij umworben. Scheinbar, denn als dieser auf Anna Karenina trifft (die gekommen ist, um zwischen Stiwa und Dolly zu vermitteln), verfällt er ihr augenblicklich und vice versa.

Unser Personenkarusell hat Fahrt aufgenommen. Eine leidenschaftliche Liebe beginnt zwischen den beiden, die Anna sämtliche (Anstands-)Regeln vergessen lässt. Schließlich verlässt sie Mann samt Sohn; am Ende muss das Unausweichliche folgen. Wohl überflüssig zu sagen, dass die Karenins stets eine distanzierte Beziehung hatten.

Eine Ehe wird glücklich. Der, dem Landleben zugetane Lewin (übrigens ein Freund Stiwas), der ebenfalls um Kitty buhlte und sich kurzzeitig gegenüber Wronskij geschlagen geben musste, wird am Ende die Angebetete nach Hause führen.
Neben diesen Hauptsträngen, gibt es selbstverständlich noch allerlei Verwandt- und Gesellschaft. Der Roman ist ein Sittenbild des 19. Jahrhunderts in Russland, in dem die oberen Schichten gerne nach Frankreich blickten, und eben ein sich drehendes Ringelspiel.

Mehr Tolstoj

  • "Anna Karenina" derzeit im Kino und ab 7.1.2013 am Wiener Volkstheater
  • "Ein Russischer Sommer" auf DVD und als Hörbuch via Spotify über die letzte Zeit Tolstojs, basierend auf dem biografischen Roman von Jay Parini.
  • "Krieg und Frieden" am Burgtheater.
  • Anna Karenina online lesen

Revisited und Remixed

Das heuer neu aufgelegte Taschenbuch (insel klassik) hat einen Riesennachteil: kein Personenregister. Bei derartigen "Schinken" und bei Unkenntnis der Personen ein Unding. Die Übersetzung von Gisela Drohla stammt aus den 1960ern und wirkt in gutem Sinne antiquiert, zur erzählten Zeit passend. Sie folgt angeblich der von Hermann Röhl aus den 1920ern, die als Klassiker gilt - die mochte ich beim Anlesen auch.
Hochgelobt allerdings ist die aktuellste Übersetzung von Rosemarie Tietze aus 2009; sie soll das sein, was Swetlana Geier für Dostojewskij war.

Die neueste Verfilmung mit Keira Knightley als Anna Karenina kann auch einiges. Schön artifiziell ist sie, zu großen Teilen in einem Theater spielend und teilweise wie ein Ballet inszeniert, fokussiert sie etwas anders als der Roman.

Ach ja, ich mag diese russischen Welten. Wo an bestimmten Wochentagen empfangen wird, Bücher noch mit Papiermessern aufgeschlitzt werden müssen, die tägliche Korrespondenz und die Toilette Stunden dauern und jedes gesellschaftliche Event Beginn einer neuen Familie sein könnte.