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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

5. 1. 2013 - 13:03

Am Strand der einsamen Herzen

"Bientôt l'été" ist ein Spiel wie ein französischer Film: melancholisch, emotional und manchmal verwirrend.

Ein Strand in gleißend weißem Sonnenlicht, an dem sich die sanften Wellen brechen; ein weißes Haus etwas entfernt, das vor fünf Minuten noch viel kleiner war; Möwen, die aufschrecken, wenn ich mich nähere. Ich sehe meinen ganz in Weiß gekleideten Strandspaziergänger von hinten, und jedes Mal, wenn eine der sanften Wellen meine virtuellen Füße benetzt, driften traumgleich einzelne Sätze ins Bild: "I don't think it matters." "Maybe you will not return anymore." "It is impossible."

Tale of Tales

Wenn ich die Augen schließe, verwandelt sich der Strand in eine riesige Drahtgitterbox aus elektronisch pulsierenden Lichtern, das Skelett eines Holodecks, und wenn ich das Haus betrete, beginnt ein regelloses, symbolisches Schachspiel mit einem anonymen anderen Spieler aus dem Netz, in dem nichts gewonnen, aber kunstvoll geraucht, Rotwein getrunken oder mit den zuvor gefundenen Konversationsfragmenten eine Unterhaltung geführt werden kann, die Verehrern des intellektuellen französischen Beziehungsfilms fremd-vertraut erscheinen wird.

Rauchen, Trinken, aneinander Vorbeireden

Das ist "Bientôt l'été", das neue Spiel der belgischen Entwickler Tale of Tales, und schon die Kurzbeschreibung macht klar, dass hier kein Spielerlebnis wie viele andere wartet. Schon die früheren Projekte der Belgier, vor allem das melancholische "interactive painting" "The Graveyard" und die Rotkäppchen-Paraphrase "The Path", waren künstlerische Experimente nicht nur mit dem Medium, sondern vor allem mit den Spielern selbst, die wieder und wieder ihre Erwartungen, was denn genau ein Spiel ausmacht, überprüfen müssen, wenn sie sich in Tale of Tales' traumartige Universen begeben.

Tale of Tales

Die unsinnige Frage, ob das denn "noch ein Spiel" sei, kann man getrost weglassen; wie "Dear Esther" und "Journey" will auch "Bientôt l'été" nicht unsere Geschicklichkeit testen oder Adrenalin pumpen lassen, sondern eine interaktive Erfahrung ermöglichen, die andere Medien so nicht zu bieten haben. Und das gelingt vorzüglich: Vor allem in den "Dialogen" mit einem bestenfalls menschlichen Mitspieler aus dem Internet entfaltet sich eine zärtliche, brüchige Intimität, die durch die Satzfragmente aus dem Werk von Marguerite Duras zu einem wehmütigen Gespräch voller Missverständnisse, unausgesprochener Geheimnisse und angedeuteter Verletzungen verdichtet wird.

Wie es sich im Arthouse-Sektor gehört, ist "Bientôt l'été" ein französisches Original mit Untertiteln in insgesamt neun Sprachen.

"Bientôt l'été" ist ein Spiel über die Unmöglichkeit der Liebe, über die Schwierigkeit, den anderen mit den Mitteln der Simulation zu berühren und so letztendlich über die Einsamkeit in Zeiten digitaler Welten. Und es erzählt nicht nur von diesen Gefühlen, sondern lässt sie im Spieler durch seine Interaktion mit dem Spiel, aber auch durch jene mit anonymen Unbekannten aus dem Netz entstehen, die sich ebenso in dieser Simulation bewegen - ein Erlebnis, das die gemeinsame Pilgerfahrt von "Journey" um eine - man könnte sagen: typisch französische - Ebene der (Fehl-)Kommunikation erweitert.

Virtueller Erfahrungsraum

Das Label, das die Belgier ihren Experimenten umhängen, heißt "notgames" und dieses Statement, so könnte man es interpretieren, macht eine zweifache Abgrenzung deutlich: zum einen gegenüber den Erwartungshaltungen einer Spielerschaft, die traditionellere Kost verlangt, und zum anderen gegenüber den etablierteren klassischen und neueren interaktiven Künsten, die skeptisch auf das Schmuddelmedium herabzublicken gewohnt sind. Doch Michael Samyn von Tale of Tales widerspricht dieser Interpretation: "[The term notgames] was never meant as the name of a category. It is the name of an approach to design instead. ... Most of us are very perfectly happy using the word 'game' for our work. We simply have a broad interpretation of what that word entails."

"Bientôt l'été" ist für Mac und Windows zum Download erschienen.

Im Fall von "Bientôt l'été" umschließt diese Interpretation ein außerordentliches Erlebnis, das berührt und zum Nachdenken und zur Sehnsucht anregt. Wer dem romantischen Pathos französischer Liebesdramen etwas abgewinnen kann und Spiele nicht nur als knallbunte Spielplätze, sondern als experimentelle Erfahrungsräume wahrnehmen kann, sollte sich Tale of Tales' Experiment nicht entgehen lassen.
Vergleichbares gibt es bislang nicht.